Baugruben, Baukräne und Bauboom
Berlin 6.9.2010 (yb) Womöglich ergäbe vergleichende Zählung Rekord. Dabei gibt niemanden in Marburg, der Baustellen, Baugruben oder Baukräne zählt. Also gibt es keinen Vergleich. Aber es gibt den Augenschein. Überall in der Stadt stehen Kräne. Die stehen nicht einfach rum. Sie drehen und sich und verrichten Arbeit an Baustellen. Vom Bahnhof kommend unter der Beton-Hochbrücke der Stadtautobahn durch, links ein Kran und rechts gleich fünf. Linker Hand wird ein Seniorenwohnheim modernisiert und ausgebaut. Rechter Hand wird Marburg als Congressstandort ausgestattet. Barmherzige Schwestern und die DVAG sind Investoren.
In Marburg wird umgebaut, ausgebaut und neugebaut
Auch bei der OP ist inzwischen aufgefallen, dass in der Stadt und an ihren Rändern auf den Lahnbergen sehr viele Bautätigkeiten im Gange sind. Dabei werden die je einzelnen Baumaßnahmen zuallermeist von der Tageszeitung publiziert. Davon allerdings stellt sich kein Überblick oder Gesamteindruck her. Ebensowenig werden Frau und Mann auf der Straße die umfangreichen Bautätigkeiten überhaupt wahrnehmen. Jede(r) geht eben seiner Wege. Und diese führen nun einmal nicht durch das gesamte Stadtgebiet.
Im Gespräch mit einem Stadtplaner in Marburg vor einiger Zeit hielt dieser den Begriff Bau-Boom doch für etwas übertrieben. Er kenne andere Städte, wo wesentlich mehr gebaut würde, sagte der Diplom-Ingenieur. Das mag schon sein, selbst wenn man nicht eine der Chinesischen Mega-Cities denkt.
Für zwei Campus-Pojekte baut das Land Hessen
Zugleich ist die Entwicklung nicht vom Himmel gefallen. Die 440 Millionen Landesmittel für den Ausbau des Campus auf den Lahnbergen und den Campus Firmanei mit neuer Universitätsbibliothek sind lange bekannt und bereits wirksam.
Pharmastandort Marburg wird ausgebaut
Dazu kommen die Bauinivestitionen der beiden beiden Großen auf den östlichen und westlichen Lahnbergen. Die Behring-Nachfolgefirmen investieren kräftig in neue Kapazitäten. Dafür braucht es Gebäude und auch Zuwegungen.
Rhön-Kliniken bauen neue Klinikeinrichtungen
Der zweite große in Marburg tätig gewordenen Konzern ist die Rhön-Klinikum AG als Träger der UKGM. Hinter den vier Buchstaben verbergen sich die UniversitätsKlinikum Gießen Marburg. Die Unikliniken wurden nicht etwa nur privatisiert von der Landesregierung unter Roland Koch. Zugleich wurden Gießen und Marburg zusammengefasst.
Es wird so sein, dass deren baulicher Ausbau vom Land Hessen nur schwer hätte geleistet werden können. Dem Rhön-Klinikum fällt dies offenbar nicht schwer. Dies lässt sich auf den Lahnbergen nicht übersehen.
DVAG baut Informations- und Congreßcentrum
In prominenter Lage am Lahnufer entsteht das „Informations- und Congreßcentrum Verwaltungsgebäude Marburg“. So steht es auf dem großen Bauschild mit Ansicht der zukünftigen Gebäude zu lesen. Etwa 45 Millionen investiert der Finanzkonzern von Marburgs Ehrenbürger Prof. Reinfried Pohl zwischen Bahnhofstraße und Rosenstraße. Dort sind bereits vor langer Zeit eine Seniorenresidenz und das Hotel unter dem Label „Vila Vita“ von dem Investor gebaut und in Betrieb genommen worden.
Wohnanlagen am Erlenring, am Schwanhof, am Lahnufer
Die Mieten in Marburg sind hoch, Studentenzahlen und Einwohnerzahl steigen. Da kann es nicht verwundern, dass Finanzinvestoren Wohnimmoblien schaffen. Fertiggestellt sind die weit über Einhundert Appartements am Erlenring, zwischen Mensa und Philosophischer Fakultät. Auf der anderen Lahnseite wird ein Eckgrundstück der Savignystraße mit Wohnanlagen bebaut und am Rand des Südviertels ensteht ebenfalls hochwertiger Wohnraum in zwei großen Einheiten.
3U HOLDING AG, Tegut, Autohaus, der Bahnhof und Weitere
Wer denkt, dass damit genug sei, kennt das heutige Marburg nicht. Das Firmenholding 3U HOLDING AG hat die Industriebrache der Firma Monopol mit 14.000 qm und Altgebäuden in der Frauenbergstraße erworben und zum Teil neu bebaut. Dorthin sind mehr als 100 Arbeitsplätze innerhalbs Marburgs umgezogen, insgesamt beschäftigt die Holding 171 Mitarbeiter. In der Frauenbergstraße wird ausgebaut für die Tochtergesellschaft 3U SOLAR Systemhandel AG. Deren Geschäftsfeld ist u.a. Solarthermie.
Beinahe in Sichtweite davon beginnt die Baumaßnahme von Tegut, an der Kreuzung hinter der Beltershäuser Straße. Dort wird ein großer Kuppelbau entstehen, dazu weitere Gebäude für Einzelhandelsanbieter.
Seit einigen Monaten lässt die GeWoBau das Bahnhofsgebäude umbauen. Darin enstehen auf 1.800 qm Räume für Arztpraxen und Büros. In der Neuen Kasseler Straße wird ein Neubau eines Autohauses in Kürze fertiggestellt. Soviel zu kleineren der gewerblichen Bauinvestitionen und Baumaßnahmen.
Öffentliche Baumaßnahmen von Stadt und Universität
Im Rahmen des Konjunkturprogrammes fließen der Universität 35 Millionen zu. Damit können vorzeitig dringende Renovierungen und Modernisierungen geleistet werden. Für energetische Sanierung des Hörsaalgebäudes wendet die Uni über 11 Millionen Euro auf.
Das Chemikum in der Bahnhofstraße, der Neubau Chemie auf den Lahnbergen gesellen sich dazu.
Bei der Stadt Marburg fließen ebenfalls Mittel in zweisteliger Millionenhöhe aus dem Konjunkturprogramm in Baumaßnahmen. Zahlreiche Schulen werden damit saniert und baulich erweitert. So beträgt der Investionshaushalt der Stadt Marburg in diesem Jahr stolze 55 Millionen Euro.
Bauen bleibt angesagt und Marburg wird gründlich verändert
Vieles steht erst noch bevor. Etwa der Campus Firmanei. Noch laufen die Planungen für die neue Universitätsbibliothek am Platz der vormaligen Frauenklinik. Bereits in Vorplanung befindet sich Neubau für den Deutschen Sprachatlas auf Gelände der ehemaligen Brauerei.
Bei der Stadt wird über eine neue Vier-Felder-Turnhalle für den Schulsport nachgedacht.
Bald wird das vormalige EAM-Gebäude, derzeit KreisJobCenter, in der Lahnstraße frei. Womöglich sollen dort Wohnungen entstehen. Solche mit bezahlbaren Mieten werden gebraucht, wenn das große Schwesternwohnheim im Klinikviertel abgebrochen wird.
Nordstadt erfährt Impulse, Aufwertung und Vitalisierung
Zwischen Bahnhofstraße und Pilgrimstein kommt es zu durchgreifenden Veränderungen in den nächsten fünf Jahren. Damit wird ein Prozeß gewollter Gentrifizierung und Stadtteil-entwicklung verbunden sein. Dem „Trading-Down“ wird etwas entgegengesetzt. Campus Firmanei und Chemikum, Congreßcentrum und Aufwertung mittels Umbau des Bahnhofsbereiches werden nachhaltige Impulse für eine Vitalisierung und Modernisierung transportieren.
Marburg wird mehr zur Stadt werden – vitaler, moderner und gestalteter.
Veränderungen lösen Widerstände und Ängste aus
Die baulichen Veränderungen und Erweiterungen stoßen nicht nur auf Zustimmung. Es wird Modernisierungsverlierer geben. Kleine Geschäft werden weichen müssen. Bewohner werden wegziehen und anderen, jüngeren und zahlungskräftigeren Platz machen müssen.
Manche vertraute, verstaubte und vergammelte Ecke wird verschwinden. Menschen mögen das nicht, wollen Vertrautes behalten. Sie mögen es vor allem dann nicht, wenn die Entwicklung von oben kommt und sie als Betroffene und Bürger nicht einbezogen worden sind.
Berechtigte Kritik kommt von Denkmalschützern und Stadtbildbewahrern. Dort lässte die große Geschwindigkeit der Transformationen zu Recht Sorgen um die Qualität von Architektur und deren Verträglichkeit aufkommen.
Verantwortung besonders für Komunalpolitik
Die Menschen in Marburg identifizieren sich mit ihrer Stadt. Pralles Vereinsleben und ungewöhnlich ausgebildete Kulturszenen sind Ausdruck und Niederschlag. Soll dies bleiben, müssen die Menschen mitgenommen werden in den Meinungsbildungsprozessen und Planungen. Das genau wird artikuliert, etwa von der IG MARSS. Aus der Vergangenheit gibt es viele Problemfälle, wie das sogenannte Marktdreieck. Das brachte den Todesst0ß für vitalen quartierbezogenen Geschäftsbesatz in Weidenhausen. Der Abbruch des Hauses Rosenstraße 9 war unrühmlich. Dies wurde zumindest offen und kritisch diskutiert. Zugleich gab es ein Einlenken seitens der Stadt. Klein-Venedig am Lahnufer bleibt ungestört vom überdimenionierten Appartementhaus eines Investors. Die Stadt hat nach Kritik interveniert.
Große Aufgaben in der Gestaltung und Umsetzung
Die Planer bei der Stadt Marburg, die Architekten haben sowieso alle Hände, Köpfe und Rechner voll zu tun.
Zu vieles gleichzeitig geht nicht ohne Verluste an Qualität und Steuerung. Ungelöst sind und bleiben sowieso Fragen der Verkehrsführung in der Universitätsstadt.
Nachdenk-Initiative für eine Standseilbahn auf die Lahnberge seitens der Grünen – vielleicht gar keine schlechte und abwegige Idee – und die neue Bürgerinitiative für eine Tunnelführung der lärmenden, stinkenden und den Stadtraum zerteilenden Stadtautobahn B3 sind Ausdruck und Reaktion auf die stürmische Entwicklung in Marburg.
Kommendes benötigt Akzeptanz der Menschen
Die zahlreichen Baugruben und Baukräne sind nur vorübergehender Ausdruck für vieles Neues, das in der Stadt entsteht.
Damit wird wesentlich die Zukunft bestimmt. Marburg ist ungewöhnlich.
Andernorts wird längst Wohnraum, und öffentliche Infrastruktur stillgelegt und abgebrochen.
Doch mit Planen und Bauen alleine ist es nicht getan. Ohne Identifikation der Bewohner, ohne wirksame und qualitätsorientierte Kontrolle und ohne Debatten über die Zukunft der Stadt kann Neues nicht gelingen. Dann würde und bliebe es Fremdkörper.
Der menschliche Organismus stößt Fremdkörper ab. Ein sozialer Organismus würde das ebenfalls machen.
Das sollte Marburg erspart bleiben. Ein Marktdreieck reicht. Ebengleiches darf sich beim Allianzhaus und Fronhof nicht wiederholen. Auch dort soll ausgebaut, umgebaut und neugebaut werden. Baugrube, Baukräne, Sie wissen schon.