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Der Richtsberg, das Erzählcafé und die Soziale Stadt

Marburg 12.12.2010 (yb) An vielen Orten gibt es jetzt Weihnachtsfeiern. Vereine und Belegschaften sitzen in Gaststätten und Gemeinschaftshäusern zusammen und speisen, trinken und sprechen miteinander. Am Freitagnachnachmittag hatten die Stadt, der Ortsbeitrat und das Erzählcafé  in das Gemeinschaftszentrum Richtsberg eingeladen. Zu einer anderen Art von Feier. Die soeben fertiggestellte Broschüre „Menschen, Schicksale, Entscheidungen – Erzählungen und Texte aus dem Erzählcafé Richtsberg“ sollte präsentiert werden. Viele folgten dieser Einladung und so konnte Bürgermeister Franz Kahle den Bundestagsabgeordneten Sören Bartol, Pfarrer Ulrich Kling-Böhm, viele Gäste und Beteiligte begrüßen.

Erzählcafé schafft Forum für Austausch und Verarbeitung

Zunächst wurde von der Einrichtung des Erzählcafés im Rahmen der Verwirklichung des Programmes Soziale Stadt berichet. Seit vier Jahren treffen sich Bewohner vom Richtsberg in diesem Rahmen, sitzen zusammen, essen miteinander, erzählen und berichten. Ihr Leben und vor allem ihr Lebensweg, der sie allesamt auf den Richtsberg geführt hat, sind Thema und Verbindendes. Es geht also nicht um gemeinsame Erinnerungen, wie sie Menschen in Dörfern, Stadtteilen oder Vereinen haben können und austauschen. Es geht um Lebenswege, Schicksale, Flucht, Vertreibung und den langen Kampf für den Aufbau eines neuen Lebens mit einer neu zu lernenden Sprache und Kultur, suche nach Arbeit, Ausbildung und das, was in Deutschland gerne Integration genannt wird.

Dahinter steht je ein einzelner Lebensweg. Aus Afghanistan, aus Syrien, aus dem Polen unter Kriegsrecht der achtziger Jahre, sind sie gekommen. Flucht bei Nacht und Nebel. Über die Grenze, weiter, dann zunächst Flüchtlingslager. Schließlich nach Monaten oder Jahren Ankunft auf dem Richtsberg, in Marburg.

Einzelne Menschen oder ganze Familien mussten fliehen, mussten alles hinter sich lassen, verloren ihre Heimat, ihre Wurzeln, Familie und Freunde. Solche Erfahrungen verändern, prägen und oft genug traumatisieren sie Menschen.

Broschüre enthält Geschichten von Verlust und Flucht, Ankunft und mühsamen Neubeginn

Mit solcher Gemengelage an schwierigen und durchgeschüttelten Lebens- und Leidenswegen beschäftigt sich das Angebot Erzählcafé im Rahmen des Programms Soziale Stadt auf dem Richtsberg, wo sehr viele Menschen aus anderen Ländern, Tausende Migranten leben. Regelmäßig, an einem Nachmittag in der Woche finden Treffen statt. Wer will, kann teilnehmen, Kaffee und Kuchen, Tee und orientalisches Gebäck zu sich nehmen. Zuhören wird geboten, erzählen und berichten. Einbringen ist möglich und findet seit vier Jahren statt. In dieser Zeit sind viele Geschichten erzählt worden, Schmerzen, Tränen, Verlust und Hoffnung sind in Worte gefasst worden. Zunächst mühsam, vorsichtig, stockend. Nach einer Zeit mit einem Gefühl von Befreiung und Erleichterung, sind doch andere anwesend, die ähnliche, ganz andere oder gar schlimmere Erfahrungen machen mussten und davon berichten.

Als Ergebnis vierjährigen Treffens und Austauschens unter Anleitung und Begleitung insbesondere von Jürgen Kaiser sind einige dieser Geschichten von den Frauen und Männern zu Papier gebracht worden und finden sich nunmehr in der Broschüre vereint. Auf 60 Seiten im Format DIN A4 schreibt Makbuile Sulejman „Ohne Heimat“.

Es berichten Willi Model „Alles für Marburg“ und Käte Dinnebier „Aktiv für Menschen, Arbeit und den Richtsberg“.

Munir Baroudi nennt seinen Bericht „Von Hama nach Marburg“. Shaima Ghafury erzählt anschaulich „Die Flucht aus Afgjhanistan  Leben in Deutschland“.

Erzählcafé Richtsberg geht weiter und Soziale Stadt muss auch weiter gehen

Mehrere Beteiligte haben am Freitagnachmittag ihre Geschichte vorgelesen. Es fiel mancher nicht leicht Stimme und Fassung zu behalten, wie das Publikum beeindruckt wurde von Betroffenheit und der Kraft dieser besonderen Autorinnen und Autoren. So gab es denn viel Dank zu sagen an die Beteiligten und ihre Einbringungen. An Heinrich Scherer und Jürgen Kaiser, die für die Stadt Marburg im Rahmen des Programmes Soziale Stadt dort mitarbeiten und betreuen, vor allem an die Erzählcafé-Gruppe selbst.

Ortsvorsteherin Erika Lotz-Halilovic lässt es nicht aus, sich beim Bundestagsabgeordneten Sören Bartol für dessen Einsatz zum Erhalt des Programmes Soziale Stadt zu bedanken und artikuliert die klare Forderung: „Das Programm Soziale Stadt muss erhalten bleiben. Wir, die Menschen am Richtsberg, brauchen diese Unterstützung und Förderung weiterhin dringend.“ Die Gäste applaudieren.

Dann wird das Buffet mit leckeren syrischen Speisen eröffnet und im lockeren Rahmen geht ein ganz besonderer Erzählcafé-Nachmittag weiter. Es ist keine Weihnachtsfeier, die im Gemeinschaftszentrum Richtsberg stattfindet. Zugleich möchte man mancher Weihnachtsfeier soviel Geist, Einbringung und Authentizität wünschen.

Die Broschüre „Menschen, Schicksale, Entscheidungen – Erzählungen und Texte aus dem Erzählcafé Richtsberg ist im Marburger Rathaus und bei der BSF am Richtsberg erhältlich. Darin finden sich insgesamt 12 Autorenbeiträge, die allesamt mit Fotos illustriert sind. Diese zu lesen lohnt. Vielleicht an Weihnachten.

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