Merkantiler Movens in Marburg
Marburg 26.12.2010 (yb) Dass in Marburg im zuende gehenden Jahr 2010 ein Bauboom zu beobachten war und ist, findet sich in das-marburger.de ausführlich beschrieben und dokumentiert. Nun ist der Begriff Baubboom rein phänomenologisch. Er sagt alleine aus, dass quantitativ viel und auch mehr gebaut wird, als in vorhergehenden Zeiten. Insofern stellt sich mit der Beobachtung deutlich gesteigerter Bautätigkeit die Frage nach den Eigenarten, Zielen und Zweckbestimmungen von diesen Baumaßnahmen. Für 2010 lassen sich diesbezüglich Schulbaumaßnahmen in großer Zahl benenennen, kofinanziert aus Konjunkturprogrammen von Bund und Land Hessen. Dies war ein gewollter und zugleich temporärer Boom, eben als Gegengewicht zur Finanz- und Wirtschaftskrise aus 2008 angelegt und inzwischen weitgehend abgeschlossen.
Impulse und Investitionen an den Rändern
Zur Betrachtung des Baubooms gehören zweifellos bereits abgeschlossene Schwerpunktinvestionen im Industrie-Pharma-Park Görzhäuser Hof und auf den Lahnbergen, wo ein Partikeltherapie-Zentrum enstanden ist. Auch die Universität mischt dabei kräftig mit und hat im Herbst 2010 den Spatenstich für den Nebau der Chemie im Volumen von rund 115 Millionen Euro vollzogen.
Einzelhandel plant Investitionen in beträchtlicher Gößenordnung
Bauboom in Marburg ist also kein inhaltsleerer Begriff oder gar eine unzutreffende Kategorie. Davon erfasst werden zunehmend Innenstadtbereiche mit Kernaufgaben städtischer Versorgungen, der Versorgung der Bewohner mit den Dingen des täglichen Bedarfes in Gestalt von Einzelhandel. Ein Beispiel ist das Einkaufsgebiet zwischen Cappel und der Frauenbergstraße. Dort, im Rahmen der Stadtentwicklung tendenziell als zum Innenstadtbereich zugehörig zu begreifen, entsteht ein neues Lebensmittel- und Fachmarktzentrum.
Ein neues Fachmarktzentrum in Cappel
Nicht nur in der Innenstadt in Gestalt des projektierten Gutenberg-Centers stehen Veränderungen der Einkaufslandschaft in Marburg bevor (siehe Artikel über das Marburger Stadtforum, den Einzelhandel und das Gutenberg-Center). Auch am Cappeler Kreuz, also der Kreuzung Beltershäuser Straße – Marburger Straße am Ortsrand von Cappel, wird neben dem Ausbau der Straßenkreuzung ein Fachmarktzentrum entstehen.
Verkehr und Waren sollen strömen
Erhöhung des Durchsatzes, Optimierung des Verkehrsflusses, Schaffung zeitgemäßer Bauwerke für den Einzelhandel – das sind Anliegen für den Standort. Planer, Baufachleute, Investoren, Anlieger und Gremien sind zurzeit damit befasst. Der Kraftfahrzeugverkehr an besagter Stelle kommt ins Stocken; die Warenströme fließen. Und die sollen noch wachsen, mehr Flächen und Anbieter. Neue Fahrspuren, Kreisel und ein Kuppelbau. Abbruch und Beseitigung von Brache. Es geht bald los am Cappeler Kreuz.
Eigentlich gibt es kein Cappeler Kreuz; korrekt lautet die Bezeichnung Verkehrsknoten Beltershäuser Straße, Südspange / Marburger Straße und Knotenpunkt Umgehungsstraße / Marburger Straße. Sieht kompliziert aus. Ist es auch. Es handelt sich um zwei Kreuzungen und weitere Abzweige, es geht um fließenden Verkehr und ein Einzelhandelsgebiet mit Postadresse Schuberstraße 4.
Bernd Kintscher vom Fachdienst Stadtplanung gibt Auskunft. Er ist genauso damit befasst wie Planer beim Amt für Straßen- und Verkehrswesen. Es geht um Landesstraßen, also ist das Land dabei. Die Stadt Marburg, das Land Hessen und die Firma Tegut sind die einzelnen Bauherren.
Für die Bauvorhaben wäre normalerweise ein Planfeststellungsverfahren notwendig gewesen, doch mittels der Aufstellung einer Bauleitplanung im Bebauungsplan 18/8, 4. Änderung Beltershäuser Straße, Cappeler Straße, tegut-Markt konnte das vermieden werden, erläutert der Stadtplaner.
Das macht die Pläne nicht anschaulicher. Gezeichnete Verkehrspläne, Texterläuterungen, Lärmgutachten, Einzelhandelsgutachten, landschaftspflegerischer Begleitplan. Alles konnte eingesehen werden, mit dem Recht zur Stellungnahmen, Anregungen zu geben oder Widerspruch einzulegen.
Angesichts des bevorstehenden Lückenschlusses der B 3a nach Süden sind die Veränderungen am Cappeler Kreuz geplant worden. Ziel ist, der Kfz-Verkehr soll strömen und nicht an der Kreuzung stocken. Es werden ein großer und ein kleiner Kreisel angelegt, um die Fahrzeugbewegungen zu optimieren. In diesem Bereich liegt auch die Abzweigung zum Tegut-Markt.
Die öffentlichen Bauvorhaben im Straßenraum umfassen Verkehrsflächen von 21.400 qm. Die Investorenplanung der Firma Tegut bezieht sich auf mehr als 14.000 qm Fläche. Tegut will seinen Lebensmittelmarkt dort verändern und ausbauen. Dazu kommen weitere Einzelhandelsanbieter, vorneweg ein Aldi-Markt Gegenüber beim Heimtex-Markt ist bereits gebaut und modernisiert worden.
Tegut-Bau mit energetischem Konzept
Nach längerer Planungszeit und Abstimmungen zwischen öffentlichen und privaten Belangen und Interessen stehen durchgreifende Veränderungen vor der Tür. Abbruch von Gebäuden schafft Raum für Umgestaltung und Neubauten. Damit verbunden wird eine gestalterische Aufwertung dieses Bereichs. Immerhin handelt es sich um eine Straße mit Bushaltestelle und ein „Filet“-Grundstück mit bester Verkehrsanbindung und hohem Kaufkraftpotenzial in unmittelbarer Nähe.
Insofern darf man gespannt sein, wie der Bauherr Tegut die Gebäude ausstattet. Der Entwurf als Kuppelbau ist bekannt und markiert Eigenwilligkeit. Neben der Gestaltung ist die energetische Auslegung interessant. Nutzung von Sonnenenergie auf Dachflächen ist vorgesehen, eine Bohrung zur Nutzung von Geothermie wird vorbereitet. Zur Kühlung in den zahlreichen Kühltruhen soll ein organisches Kühlmittel verwendet werden. Es wird an diesem Standort für Marburger Verhältnisse nicht geringen Flächenzuwachs mit Einzelhandelsanbietern ebenso geben, wie topmodernes ökologisches Bauen zur Umsetzung kommen soll.
Neues Shopping-Center – Belebung oder Austrocknung für den Einzelhandel?
Ein Marburger Stadtforum zur Innenstadtentwicklung brachte Mitte November viele auf die Beine und förderte vieles zu Tage. Am Platz des jetzigen Allianzhauses in der Universitätsstraße mit genutzten 4.000 Quadratmetern soll ein Gutenberg-Center entstehen und das mit einer Verdreifachung der Einzelhandelsfläche. Es kommt also ein Schwergewicht dazu, mit bis zu 50 Geschäften. Das wirft Fragen auf, die auch artikuliert worden sind beim Stadtforum – vor allem von Einzelhändlern, vorneweg von Kaufhausbesitzer Peter Ahrens. Dass es dabei keinesfalls um einen simplen Gegensatz zwischen Oberstadt(händlern) und dem geplanten neuen Gutenberg-Center gehen kann, sollte als Fazit einer allerdings erst begonnenen Diskussion gelten können.
Stadtplanerische Gesamtentwicklung
Es war eben kein Ablenkungsmanöver oder Versuch einer Ventilierung, wenn eingangs des Abends Stadtbaudirektor Rausch Grundzüge einer kommenden Umgestaltung des Rudolphsplatzes skizzierte. Rausch veranschaulichte die Scharnierfunktion dieses zentralen innerstädtischen Platzes, zugleich dessen obsolete Gestaltung und mindere Qualität nicht alleine für Fußgänger und Radfahrer. Dort muss etwas geschehen. Das Nachdenken hat begonnen, Planer und Planungen sind in Gang gesetzt. Es soll neue Lösungen und Qualitäten für die Oberstadterschließung und das Südviertel geben, inklusive der Schaffung von Aufenthaltsqualität am zentralen Marburger Rudolphsplatz mit historischer Lahnbrücke, einer neuen Ufergestaltung für die Lahn und eine angemessene Führung der Verkehrsströme. Dazu kommen die Pläne zur Entwicklung des Fronhofbereiches. Die Stadt Marburg tut dafür was, und zwar eine Menge.
Entwicklungspotenzial und Bedarf für den Einzelhandel
Schon länger sind die Ergebnisse einer Einzelhandelsstudie auf dem Tisch. Marburg hat Defizite. Aber zweifellos auch Stärken, sonst zöge es nicht einen gestandenen Investor wie Joachim Tenkhoff in die Universitätsstadt, zumal mit einem in dessen Betrachtung relativ kleinen Einkaufscenter. Gleichwohl will die Berliner Tenkhoff Properties mehr als 100 Millionen Euro in die Hand nehmen und dort investieren, wie der Projektentwickler der Redaktion von DAS MARBURGER auf Nachfrage mitteilte. Eine solche Investition muss sich rechnen, und insofern war es alles andere als abwegig, wenn an dem Forumsabend in der Oberstadt von der Gefahr der Verlagerung von Kaufkraftströmen die Rede war, wie es etwa Robert Sabo zur Sprache brachte.
Droht Verdrängungswettbewerb oder legt Einzelhandel in Marburg zu?
Dass es Geschäftsverlagerungen aus der Oberstadt in ein kommendes Gutenberg-Center geben wird – die Rede war zum Beispiel von Douglas -, wird niemanden überraschen können. Zugleich sollten die Aussagen von Oberbürgermeister Egon Vaupel ernst genommen werden, wenn dieser sagte: „Marburgs Mall ist die Oberstadt.“ Vielleicht wollte der OB damit ein Mandat, eine Aufforderung, an Hauseigentümer als Vermieter und an Einzelhändler artikulieren, bitteschön etwas mehr für die Entwicklung und einen attraktiven Geschäftsbesatz von Marburgs guter Stube zu unternehmen. „Die Oberstadt“ wäre gut beraten aufzuwachen. Mit einer simplen Werbegemeinschaft wird es nicht mehr getan sein. Es braucht ein qualifiziertes Quartiermanagement. Es ist eben nicht mehr Sache von Liegenschaftseigentümern alleine, wer Mieter in einem Ladengeschäft wird, nach dem Motto „Hauptsache er zahlt“ (den hohen Quadratmeterpreis).
Entwicklungen gehen an Marburg nicht vorbei
Zugleich kann den artikulierten Fragen von Marburgs einzigem Kaufhausbetreiber Peter Ahrens entgegen gehalten werden, dass sich die Zeiten selig mit nur einem Kaufhaus, und damit insoweit einem Monopol, dem Ende zuneigen werden. Kaufhäuser der Zukunft sind attraktive Einkaufs-Center mit attraktivem Branchenmix. Das ist so, allerorten, und lässt sich in Marburg sicher nicht verhindern. Bereits jetzt gibt es Baurecht für 10.000 Quadratmeter Verkaufsflächen im Allianzhaus. Der Liegenschaftseigentümer ist aktiv geworden. Das war überfällig. Die Allianz wird wohl verkaufen. Dabei muss es Stadt und ansässigen Einzelhändlern darum gehen, in dem Modernisierungsprozess, der gerade städtebaulich überfällig ist und für die Stadtentwicklung angezeigt ist, Einfluss zu nehmen. Dass dies möglich und sogar erwünscht ist, hat der Abend dieses Stadtforums deutlich gezeigt. Jeder kam zu Wort. Kontroverse, sogar weitschweifige Positionen konnten verlautbart werden. Tenkhoff Properties war in Person präsent. Joachim Tenkhofff präsentiert sich gesprächsbereit und ein Stück weit offen für Dialog und Bedenken.
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Einzelhändler sollten Diskussion aufgreifen
Angesichts vielschichtiger Themen und Interessenlagen wäre es bei weitem zu viel von einem solchen Abend erwartet, einfache und klare Antworten mit nach Hause nehmen zu können. Genauso war oder wäre es naiv zu denken, dass der Investor Joachim Tenkhoff seine Aktentasche ausräumt und Pläne auf den Tisch legt, an denen er selbst noch arbeitet, oder Verträge offenbart, über die allenfalls Vorverhandlungen geführt werden. Der Mann hat sich blicken lassen, auch in sein Gesicht. Das ist nicht selbstver-ständlich. Anonymes Investorenkapital sieht anders aus und kommt anders daher. Tenkhoff hat vor Ort Witterung aufgenommen. Dazu hat er klare Aussagen wider ein Konzept des Verdrängungsansatzes artikuliert. Geradezu wohltuend waren seine Aussagen zu einem gedeckelten Parkplatzangebot mit 300 Parkhaus-Abstellplätzen. Gutes Einkaufen, Einkaufsatmosphäre und Einkaufsbummel gehen mit Belästigungen durch Pkw-Verkehr nicht zusammen. Das weiß dieser Mann, hat es gesagt – manchem Marburger muss dies gesagt und viel mehr noch klar gemacht werden. Die autogerechte Stadt ist Vergangenheit, war Ideologie und falsche Orientierung.
Die Stärkung der Innenstadt ist notwendig und erscheint mit den Umrissen der Planungen für ein integriertes fünfstöckiges Gutenberg-Center, in dessen oberen Etagen die juristische Fakultät der Universität neue Heimat finden soll, mit einer neuen Fronhof-Bebauung, mit einem umgestalteten Rudolphsplatz und einer vitalen und vitalisierten Oberstadt keinesfalls als eine abwegige Utopie.
Wie wäre es, werte Einzelhändler, Kauffrauen und Ladenbetreiber der Oberstadt, wenn von Euch eine Veranstaltung zu Sichtweisen, Problemen und Zukunftsanschauungen und Angeboten gemacht würde? Die Diskussion ist eben nur eröffnet worden. Sie weiterzuführen, zu vertiefen, dabei eigene Positionen zu artikulieren, wahrscheinlich überhaupt erst zu entwickeln, ist eine treffliche Aufgabe für diejenigen, die jetzt als Einzelhändler bereits eine Menge in der Stadt Marburg leisten und dies auch in Zukunft weiter leisten wollen. Sie sollten die Debatte um die Einkaufsstadt Marburg – im eigenen Interesse – aktiv weiterführen.
Zusätzlichen Anstoß dafür mögen soeben veröffentlichte Pläne von Kaufhausbetreiber Ahrens geben. Dieser plant Umbauten und Erweiterungen in seinem Kaufhaus in der Universitätstraße unter Einbeziehung von zwei neuen Einzelhandelsmietern, Görtz für Schuhe und Thalia für Bücher. In gewisser Weise nimmt damit Marburgs merkantiler Kaufhausbetreiber Planansätze von Tenkhoff Properties für ein Gutenberg-Center vorweg. Er schafft zusätzliche Einzelhandelsflächen, zudem in Segmenten, Schuhe und Bücher, wo Marburg nun nicht gerade schwach besetzt ist.
Ein grundständiger Diskussionsprozeß, Stadtplanung und Massstäbe für die Stadtentwicklung sind hier vonnöten. Anfänge sind gemacht, brauchen jedoch Träger und Interessenabbildung in den anstehenden Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen, die über die der Stadt Marburg (Kommunalpolitik) und die der Investoren (Tenkhoff, Ahrens) hinausgehen – zum Wohle der Gesamtstadt Marburg und einer vielseitigen merkantilen Mischung von Marburg als Einkaufsstadt.
Es geht eben nicht darum einen bloßen Bauboom in Marburg zu entfachen – ohne Massstäbe von Innen, ohne Blick auf das Vorhandene und ohne leidige Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit aufzunehmen. Ein merkantiler Movens ist für die sich abzeichnenden Bau- und Veränderungsprozesse kein hinreichender Antrieb. Stadt ist mehr und die Stadt Marburg braucht und verdient mehr.
–> Beitrag 2.1.2011 Entwicklungsschübe im Marburger Einzelhandel – oder kommt das Ende der (Ober-)Stadt, wie wir sie heute kennen?