Schließung des Lesesaals im Stadtarchiv Kassel

12.11.2024 (pm/red) Der Lesesaal des Stadtarchivs wird vom 20. November 2024 bis 28. Februar 2025 geschlossen. Grund der Schließung sind anstehende Umbaumaßnahmen in den Magazinbereichen. Zugriff und die Bereitstellung von Archivmaterialien sei in dieser Zeit …

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Weltkulturerbe für Marburg oder für Tübingen?

Marburg 7.7.2012 (yb) So viel Prominenz und ein solches Medienaufgebot in Marburg war lange nicht. Anlässlich der gestrigen Präsentation der Bewerbung der Universitätsstadt Marburg als UNESCO Weltkulturerbestätte hatte der hauptamtliche Magistrat das Universitätspräsidium mit Präsidentin und Vizepräsident eskortiert von mehreren Professoren zu Gast. Der Direktor des Landesamts für Denkmalpflege war erschienen, zudem eine Staatsekretärin als Vertreterin des Hessischen Finanzministers, der Gutachter Prof. Willem Frijhoff war aus den Niederlanden angereist. Einen Vertreter hatte die Stadt Tübingen geschickt, geht sie doch mit Marburg und mit gleichem Begründungszusammenhang in das mehrjährige Verfahren zur Erlangung des weltweit begehrten Attributs einer Welterbestätte. Dabei wurde die Bewerbung von Tübingen aus Marburg angestoßen. Ein Bürgermeisteranruf aus Hessen nach Württemberg lieferte erst die Idee und den Anstoß es – in einem sogenannten seriellen Verfahren – ebenfalls zu versuchen. Die beiden Kleinstädte verbindet eine rund fünfhundertjährige Tradition als Universitätsstädte. Wen würde es da wundern, dass Stadtbild und Stadtleben, Kultur und Selbstverständis dieser beiden deutschen Kommunen in hohen Maße universitär und universitätsbezogen geprägt sind.

 

Blick vom neu gestalteten Mensahof am Erlenring zur Altstadt, links das Gebäude der Alten Universität. Foto Hartwig Bambey

Aber hat sich Marburg mit der ungewöhnlichen Initiative zur Neckarstadt ein Kuckkucksei in´s eigene Nest gelegt? Was wird ein kommender Marburger Oberbürgermeister denken, wenn ihm zur Kenntnis gelangt, dass an Stelle von Marburg Tübingen als Stadt „von außergewöhnlichem universellem Wert“ – so die gestrige beflügelte Schlagzeile in der Pressemitteilung der Philipps-Universität – das Attribut Weltkulturerbestääte verliehen worden ist?

Ein Blick in die Begründung für die Bewerbung zeigt, dass es sich nicht um eine städtebaugeschichtlich-denkmalorientierte Avance alleine handelt. In der Betrachtung wird der kulturelle Raum, materialisiert etwa in zahlreichen universitären Archiven und Sammlungen, einbezogen. Akademisches Leben, das – wen würde es in einer Kleinstadt wundern – die Stadtgesellschaft in hohem Maße prägt(e) und formt(e) und die ständig auf´s Neue stattfindenden Prozesse von Aneignungen und Vergegenwärtigungen sollen mit in die Betrachtung und Bewertung gehieft werden.

Dafür haben die Protagonisten Einiges aufgeboten. Zuallermeist ist dazu das (teure?) Gutachten des Universitätshistorikers Prof. Willem Frijhoff zu benennen. Auf 96 illustrierten Druckseiten finden sich dessen Gedanken und Bewertung von Marburg als Universitätsstadt im geschichtlichen und kulturellen Kontext vröffentlicht. Die Zahl 96 würde nicht annähernd reichen, um all die Schriften, Monografien, Dissertationen und Folianten zu fassen, die sich genau damit seit Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten befassen. „Wir wollten eine Sichtweise von außen“ begründet OB Vaupel die Beauftragung von Prof. Frijhoff.

Und so erlebt und zelebriert sich Marburg am Wochenende seines rummeligen Stadtfestes 3TM zum Beginn des Sommers 2012 selbst. Dazu hat man Ebbes organisiert und aufgeboten, siehe oben, um gebührende mediale Resonanz und Selbstbespiegelung zu organisieren. Das ist nichts anderes als konsequent. Die Bewerbung ist in´s Rennen geschickt, wird zugleich dazu genutzt um nach Außen und nach Innen Aufmerksamkeit zu ‚generieren‘. Leben und leiden wir doch in (neobliberal verbrämten) Zeiten des Standortwettbewerbs von Städten, nicht weniger solchen der Universitäten.

Dagegen spricht wenig. Eigentlich gar nichts. Zum Stadtleben gehört Öffentlichkeit, Diskurs und Wahrnehmung. Nach innen und nach außen. Um nichts anderes handelt es sich bei der Bewerbung, nur eben eingebunden in ein formalisiertes und hoch besetztes Titularprocedere. Für Akademiker ist dies nichts besonderes. Ohne dergleichen – ob Bachelor, Master, Promotion oder Habilitation – gäbe es sie und mithin die Universitäten gar nicht. Dass sich dabei in Marburg kritische Stimmen regen, gehört unbedingt dazu. Was für eine Stadt wäre denn Marburg, wenn es nicht auch Kritker zu alledem geben würde?
Das ist freilich ein weitere Thema, wozu es später in das Marburger. zu lesen geben wird.

Wird sich die Überlegung der Marburger Macher den Pfad einer ’seriellen‘ Bewerbung unter ‚Anstiftung‘ zum Mitmachen resp. der ‚Einbeziehung‘ von Tübingen auszahlen? Diese Frage gilt es zu beantworten. Die Antwort fällt überraschend leicht. Sie lautet nein. Den Grund dafür konnte man bei der Präsentation am 6. Juli 2012 unmittelbar aus dem Mund des Direktors des Landesamt für Denkmalpflege Hessen erfahren. Prof. Gerd Weiß erläuterte – dazu war er genau nach Marburg gereist – dass angesichts der Vielzahl deutscher Städte die bereits Welterbestätte sind, ein formalisiertes und reguliertes Vorverfahren in Deutschland geschaffen wurde. Wegen der Kulturhoheit der Länder haben diese allesamt miteinander ein Vorschlagsrecht. So kann jedes der 16 Bundesländer zwei Vorschläge einreichen. Das ergibt eine Vorschlagsliste von mindestens 32 Bewerbern (alleine) aus Deutschland. Im Vorhinein ist dazu weiterhin festgelegt, dass pro Jahr nur ein(e) Bewerber(in) aus Deutschland – eben wegen der bereits gegebenen großen zahlenmäßigen Präsenz in der UNESCO-Liste – Aufnahme finden kann. So tritt Marburg, zusammen mit Wiesbaden (Badestadt) und Darmstadt (Mathildenhöhe) und 30 weiteren deutschen Bewerbern gemeinsam an. Dass sich Marburg dabei vor alle diese und dann auch noch vor Tübingen platzieren wird, ist …
Gewissermaßen verschärfend kommt hinzu, das Tübingen nun wirklich kein Pappkamerad ist. Würde Tübingen innerhalb des deutschen Vorverfahrens vor Marburg gesetzt, hätte eine zweite deutsche Stadt mit derselben Bewerbungstrategie ‚Universitätsstadt‘ auf Jahre hinaus keine Chancen. Das steht bereits jetzt fest.

Ergebnis der Bewerbung kann es jedoch mehr als lediglich eines geben in der Lahnstadt mit Universität. Die Aussichten auf einen Erfolg hat sich Marburg selbst verringert. Zu den Hessischen Mitbewerbern Darmstadt und Wiesbaden hat man mit der ‚Kultur-Raum-Strategie‘ im Konnex von Stadt und Universität in jedem Fall einen OUV. Das heißt ‚outstanding universal value‘, zu deutsch ‚herausragenden universellen Wert‘. Genau dieses – im Marketingsprech USP (unique selling proposition= Alleinstellungsmerkmal) genannt – Merkmal, die Idee und Schöpfung einer besonderen Strategie und deren Begründung für die UNESCO-Bewerbung, hat sich Marburg selbst beeinträchtigt. Das ist dumm. Ausgesprochen dumm sogar. Wer das nicht glaubt, fahre einmal nach Tübingen und laufe mit offenen Augen durch diese Universitätsstadt. Dass man sich in Marburg der Ähnlichkeit, nicht zu sagen Ebenbürtigkeit gar Überlegenheit Tübingens bewußt war, ist okay und ist eine Sache. Dass man jedoch Tübingen sensiblisisiert und ermuntert hat sich ebenfalls zu bewerben, kann nur mit mildem oder verständnislosem Kopfschütteln quittiert werden.

Werden ist in diesem Kontext ein eminent wichtiges Wort. Weil es nicht so sehr auf das Ergebnis, stattdessen auf den Weg (als Ziel), auf den Prozess verweist. So könnte in Marburg eine Auseinandersetzung stattfinden. Diese müsste jedoch gewollt und richtig verstanden werden. Das Wort ‚Stadtgesellschaft‘ war im Zusammenhang der Bewerbung aus dem Mund Egon Vaupels zu vernehmen. Um genau diese ‚Stadtgesellschaft‘ könnte, sollte und müsste es zukünftig gehen in Marburg an der Lahn. Gedrucktes, Erforschtes, Geschriebenes und längst Bekanntes zur Eigenart der Stadt hat es über alle Maßen. Das findet sich in Köpfen und Herzen vieler Marburgerinnen und Marburger wieder. Diese sind bislang jedoch außen vor. Das ist dumm, eine Vernachlässigung, ein Mangel und ein Fehler. Es sollte unbedingt darum gehen engagierte BürgerInnen zum Dabeisein und Mitmachen einzuladen, mitzunehmen, aufzufordern. Wie etwa in Kassel, wo im Zuge der Bewerbung (Herkules und Bergpark Wilhelmshöhe) längst ‚Bürger für das Welterbe‘ als lebendigen Zusammenschluss gibt.

Also raus aus dem Rathaus und universitären Elfenbeinturm.  Weg von Gutachten, Amtstuben und Expertenrunden muss Devise und Selbstverständnis werden. Diskussion, Diskurs, Kritik und Anregungen der Menschen und ihrer Vereinigungen sind Trumpf. Nach Innen agieren statt nach Außen schielen. Ob Geschichtswerkstatt, Geschichtsverein, IG MARSS oder ob Bürgerinitiative Stadtautobahn und Initiative zur Beruhigung der Oberstadt. Es warten Viele mitgenommen und nur einfach angesprochen zu werden.

Bürgerbeteiligung ist das Gebot der Stunde. Ob in 2027 – zum Fünfhundertjährigen der Alma Mater Philippina – Marburg mit seiner Universität auf der Welterbeliste steht oder nicht, wird wenig ändern und bestimmen. Ob jedoch angesichts der durchgreifenden Veränderungen, Umbauten und Umbrüche in der Stadt die Menschen ‚mitgenommen‘ werden, also partizipatorisch und demokratisch nachhaltig agiert wird, kann / könnte Vieles verändern und bewirken.

Jetzt kommt erst mal die Sommerpause. Zeit zum Reisen. Reisen bildet. Ob Pisa, Versailles oder vielleicht Tübingen. Spätestens nach diesem Sommer sollten die benannten Vereine und andere mehr selbstbewußt und selbstverständlich von den Stadtoberen und auch vom Universitätspräsidium Mitsprache und Beteiligung einfordern.

Unbedingt zu denken geben Hinweise in einer Betrachtung in der Stuttgarter Zeitung zur Bewerbung von Tübingen: 
„All das hindert deutsche Bürgermeister aber nicht, im Auftrag ihrer Tourismusreferenten eifrig neue Anträge auf Welterbe-Ernennung zu stellen. So ganz aktuell in Tübingen, das in Gänze und gemeinsam mit Marburg als „very typical German Universitätsstadt“…  Trotz aller Zweifel brummt die Kulturantragsmaschine munter weiter. Derweil schlagen die Islamisten in Mali das Welterbe unbehindert kurz und klein.“
Marburg hat Chance und den Auftrag seine Bewerbung zum Anliegen möglichst vieler Menschen zu machen – und damit zum fruchtbaren Prozess der Auseinandersetzung und Aneignung zu öffnen.

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