Differenzierte Sichtweise auf die Umbrüche in Arabischen Ländern
Marburg 22.8.2012 (yb) Ein Podiumsgespräch gehörte zu den Angeboten der diesjährigen International Summer University (ISU) an der Philipps-Universität mit Moderation von PD Johannes M. Becker. Neben zahlreichen Teilnehmern der inzwischen zu Ende gegangenen ISU verfolgten sich in Marburg aufhaltende TeilnehmerInnen am Fulbright-Programm die Ausführungen der beiden Experten. Auf dem Podium saßen Werner Ruf, Professor Emeritus für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik der Universität Kassel (Schwerpunkt Politik, Wirtschaft und sozialer Wandel in Nordafrika und im Nahen Osten) und Prof. Rachid Ouaissa, Professor und Leiter des Fachgebiets Politik des Nahen und Mittleren Ostens an der Philipps-Universität. In englischer Sprache wurden von ihnen die Ausführungen zu Fragen von Johannes M. Becker vorgetragen. Als eine der Folgen des ‚Arabischen Frühlings’ benannte Werner Ruf Repressionen gegen Aktivisten, ob in Tunesien, Ägypten oder Libyen. Die Gründe für die Aufstände und Umsturzbewegungen sieht Ruf in den sozialen Verhältnissen der betroffenen Länder. So etwa in Tunesien, wo der vormalige Herrscher „sich als Dieb verhalten hat“. Gleichwohl sei das Geschehen nicht als Revolution im Sinne eines Systemwechsels zu betrachten.
Prof. Rachid Quissa eröffnete mit dem Satz „The Riches have no more project“. Er benannte das Scheitern von Entwicklungsprojekten, die Entwicklung nach dem Scheitern der Systeme, zunächst des Sozialismus und inzwischen auch des Kapitalismus, und eine Wende in den islamischen Gesellschaften, wo etwa die früheren Großfamilien inzwischen längst nicht mehr die Bindungskraft für die Gesellschaften entwickeln würden. Veränderte Herrschaftsformen der Staaten und ein vordringendes Internet im Kontext entstandener gebildeter Mittelschichten sind nach Quissas Einschätzung Grundlagen für die aufständischen Bewegungen. Auch er sieht keine Revolutionen, sondern nur revolutionäre Momente.
Zu Frage nach der Rolle der Religion, also des Islam, bei der ‚Arabellion‘ verwies Ruf auf einen „antikolonialistischen Impetus“ im Kontext der bisher nach westlichen Leitbildern abgelaufenen Modernisierung, die jedoch ohne eigene Identitätsbildung stattgefunden habe. Dies habe in den letzten Jahren das Erstarken des Islam hin zu fundamentalistischen Strömungen begünstigt. Quaissa sieht den „zerfallenen Traum, die verloren gegangene Vorstellung von Gleichheit“ als wesentliche Basis für die religiöse Renaissance des Islam. In seiner Einschätzung ist diese Bewegung nicht auf arabische Länder begrenzt. Sie entwickele sich – entsprechend der Globalität der Probleme – weltweit. (Ausdruck dafür etwa die Occupy-Bewegung)
Die Frage nach dem Libyen-Krieg als Teil der ‚Arabellion‘ wurde von Ruf klar verneint. So habe es in Libyen dank des Ölreichtums und einer wirksameren Verteilungspolitik des Gaddafi-Regimes kein ökonomischen Probleme breiter Bevölkerungskreise gegeben. Zugleich sei Libyen kein Nationalstaat gewesen, sei vielmehr von Stammesgesellschaften geprägt gewesen. Bereits im Erscheinungsbild hätten die Aufstände in Tunesien und Ägypten in diesen beiden Ländern unter den jeweiligen Nationalflaggen stattgefunden. In Libyen sei ein von den USA getragener Regimewechsel vollzogen worden. Diese Einschätzung wurde von Quissa geteilt.
„Die Landkarte im Mittleren Osten wird neu geschrieben“ meinte Ouaissa, ohne dass derzeit absehbar sei, welche Konstellationen sich durchsetzen und behaupten könnten. „Die Menschen haben gelernt, dass sie selbst Macht haben und entfalten können“ lautete ein Resümee von Ruf in dem dichten Gespräch, das von den Studierenden aus vielen Ländern mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde und Anstöße für eine genauere Wahrnehmung und je persönliche Einschätzungen eröffnete.