Bürgerversammlung zur Windenergienutzung öffnet den Blick – Vorbereitungen für nur vier Windkraftanlagen in Marburg
Marburg 5.10.2012 (yb) Nur etwa 60 Interesssierte waren der Einladung gefolgt, was Ergebnissen an diesem Abend nicht im Wege gestanden hat. Regierungspräsident Lars Witteck eröffnete mit viel Informationen auf das Ganze regenerativer Energieerzeugung in Hessen. Es folgte Bürgermeister Franz Kahle mit Aktuellem zu den allenfalls vier möglichen Standorten in Marburg. Danach kamen Fragen, die erschöpfend beantwortet wurden. Die Besucher wußten am Ende, dass in Marburg möglicherweise vier neue Windräder am Lichter Küppel zum Bau kommen können. Mehr davon im nachfolgenden Bericht, der während der Veranstaltung geschrieben wurde, darin zwei Ausschnitte des Vortrags von Regierungspräsident Lars Witteck zum Anhören.
Auf Einladung des Stadtverordnetenvorstehers findet diese Bürgerversammlung (gemäß der HGO) im Sitzungssaal der Stadtverordneten an diesem Freitagabend statt. Als besonderen Gast können die städtischen Repräsentanten Lars Witteck, Regierungspräsident (RP) aus Gießen begrüßen, der eingangs über regenerative Energienutzung im Kontext der übergeordneten und in formeller Aufstellung befindlichen Regionalplanung unter dem Titel ‚Erneuerbare Energien in Mittelhessen‘ referiert.
Bezüglich der Aufgaben und Kompetenzen in Sachen erneuerbarer Energien führt Witteck zunächst aus, dass nahezu 40 Prozent der 850 Mitarbeiter/innen mit Tätgkeiten diesbezüglich beschäftigt sind. Von 744 Windkraftanlagen (WKA) per August 2012 sind alleine 199 WKA im Vogelsbergkreis aufgestellt, informiert der RP.
☛Zum Reinhören ein Ausschnitt der Worte von Lars Witteck:
Von den aufgestellten Anlagen sind ein großer Teil inzwischen veraltet, haben lediglich eine geringe Stromerzeugungssleistung von oft maximal lediglich 1 Megawatt (MW) im Unterschied zu WKA heutiger Bauart mit 3 bis 5 MW Leistung. So gebe es inzwischen nicht wenig Widerstand gegen neue Windkraftanlagen angesichts des Flächenverbrauchs, Schallemissionen und anderer damit verbundener Belastungen. Danach gibt Witteck einen Überblick zu anderen Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energieträger in Hessen mit Schwerpunkt in Mittelhessen. Bezüglich des Erneuerbaren EnergieGesetz (EEG) geht der RP auf vorhandene Problematik in der Fördersystematik ein.
Danach kommt eine kurze Vorstellung der Ziele des hessischen Energiegipfels. Dabei beklagt der Referent die sehr kurzfristige Abwendung von der bisherigen Energiepolitik, wodurch es eine zu kurze Planungsphase gegeben habe. Als Ziel des hessischen Energiegipfels ist formuliert, die Deckung des Endenergieverbrauch (Strom und und Wärme) bis zum Jahr 2050 aus erneuerbaren Energieträgern zu leisten. Witteck benennt als einen Problemkreis, der zu wenig bedacht würde, Fragen zur Energieverteilung, wie etwa Strom über die vorhandenen nach ganz anderen Kriterien ausgelegten alten Stromnetze zu verteilen. So gebe es derzeit bereits Probleme mit Überlastphänomenen, was etwa zur Abschaltung einzelner WKA in ertragsstarken Zeiten führe. Schließlich verweist er auf die fehlende Fokussierung auf die Bereiche des Wärmeverbrauchs, der alleine die Hälfte des Energieverbrauchs ausmache.
Zum noch in Arbeit befindlichen Regionalplan für Mittelhessen, nach der bundespolitischen Energiewende mit neuen Vorgaben noch einmal in Überarbeitung gegeben, findet sich als offene Informationsplattform das ‚Mittelhessische Energieportal‘, darunter eine Windpotentialkarte für jede Kommune. Eine regionalplanerische Vorgabe zur Windkraftnutzung fordert ein Windaufkommen von 5,75 Meter/Sekunde. Dies kollidiere bei gewollter Ausweisung von zwei Prozent der Flächen, bei Aufstellung von mindetens drei WKA pro Standort, einem Mindesabstand von 1000 Meter von Wohnflächen oftmals mit weiteren Anliegen, wie Landschaftsschutz und Schutz von Flora und Fauna. Insofern „können wir froh sein, wenn wir am Ende zwei Prozent Flächenausweisung für Windenergie überhaupt hinbekommen“sagt der Regierungspräsident. Bei dem Ziel Fertigstellung und Verabschiedung des Regionalplans im Dezember 2012 befinde man sich vorab in intensivem Dialog mit den Kommunen.
Angesichts der vielerorts aufgeflammten Widerstände gegen WKA begrüßt der RP die neuen Bestrebungen zur frühzeitigen Bürgerbeteiligung und der materiellen Beteiligung möglichst vieler Bürger an den Erträgen aus neuen Energieanlagen, wofür Stadtwerke und neue Energiegenossenschaften geeignete Wege sein können. „Es braucht nicht jede Kommune 10 WKA oder viele Anlagen zur Nutzung von Sonnenstrom“sagt Witteck und plädiert für Bürgerdialog, Abstimmungen und konsensorientierte Vorgehensweisen.
☛Kritische Schlußworte von RP Witteck zur Umsetzung neuer Windkraftanlagen
Über die Marburger Situation informiert Bürgermeister Franz Kahle mit vorweggehendem Verweis auf die erheblichen Flächenvorteile von WKA im Vergleich zu anderen regenerativen Energieträgern und deren Flächenverbrauch. Onshore-Windkraftanlagen seien auch hinsichtlich der dort geringeren aufzuwendenden Förderzuschüsse die volkswirtschaftlichen günstigsten Möglichkeiten regenerativer Energieerzeugung. Danach erläutert Kahle die vier bisherigen Standorte für WKA in Marburg und stellt diese in Detailkarten vor. Die Flächen in Dilschhausen seien wegen der kleingliedrigen Eigenümerstruktur als schwierig zu betrachten, führt Kahle aus. Eine andere Situation gebe es im Bereich Görzhäuser Hof, wo die Bebauung mit gewerblicher Nutzung durch die Behring-Werke keinen Konflikt bedeute. Auch dort gibt es kleinteilige Eigentumsverhältnisse, die zusammengeführt werden müssten. Eine qualifizierte Windberechnung für diesen Bereich habe 5,5 bis 6,0 Meter Windgeschwindigkeit pro Sekunde ergeben. Bei einem Investitionsvolumen von heute 3 bis 3,5 Millionen Euro je WKA sei für die beiden Standorte ungesichert, ob dort WKA überhaupt wirtschaftlich betrieben werden könnten.
Größter Marburger Standort können die ‚Lahnberge Nord‘ werden, wo ein Teilbereich wegen zu großer Nähe zum Flugplatz Schönstadt herausgenommen werden musste. Der 1000 Meter Abstand zum Uniklinikum auf den Lahnbergen ist dort ebenso wie auf dem ‚Lichter Küppel‘ nahe Cappel gegeben. Die beiden letztgenannten Standorte sind eigentumsrechtlich unproblematisch, in Gestalt von Eigentümer ‚Hessen-Forst‘, mit dem unproblematisch Regelungen zu finden sein werden, meint Kahle. Für diese beiden Standorten sollen Windmessungen vorgenommen werden. Diese sind inzwischen beauftragt und sollen im Herbst 2013 vorliegen. Beide Standorte werden aus Gründen des Vogelschutzes vom RP kritisch betrachtet, was im weiteren Verfahren abzuarbeiten sei.
Die vier dort projektierten WKA sind noch einmal visualisiert worden, um Anschauung über die zukünftige optische Wirkung zu gewinnen. Die Ansichten aus verschiedenen Perspektiven veranschaulichen, dass es beim Bau der WKA lediglich zu geringen und vertretbaren optischen Beeinträchtigungen kommen würde. Derzeit gibt es in Marburg seitens der Stadtwerke Vorarbeiten und Planungen für die Aufstellung von vier Windrädern, wofür derzeit allerdings auf Risiko geplant wird. Der Standort Lichter Küppel ist (wie die drei anderen) ist noch nicht im Regionalplan abgesichert. Bezüglich der Beteiligung an den wirtschaftlichen Erträgen verweist Kahle aufgelegte ‚Bürgerbriefe‘, an denen sich Marburger finanziell beteiligen können.
In der anschließenden Diskussion kritisiert ein Besucher den späten Termin der Bürgerversammlung und die bisherige Informationspolitik. Er problematisiert die vorliegenden Windberechnungen. Daraufhin verweist Bürgermeister Kahle auf die stattdessen zu erhebenden Windmessungen. Dafür fallen 200.000 Euro als Kosten an. Damit werde wird nicht auf einer womöglich fehlerhaften Basis von Berechnungen sondern mit gemessenen validen Ergebnissen gearbeitet.
Ein anderer Besucher begrüßt, dass für die östlichen beiden Lahnberge-Standorte in Marburg gemessen werden soll. Bezüglich des möglichen Standortes ‚Görzhäuser Hof‘ teilt Bürgermeister Kahle mit, dass dort derzeit keine Windmessungen geplant seien. Vor solchen kostenträchtigen Maßnahmen müsse es für dort konkretes Interesse samt Eigentümerzustimmung geben.
Es kommen noch eine Reihe von Detailfragen aus dem Publikum, aus denen sich sich eine kritische Positionierung der Frager entnehmen läßt. Alle Fragen bis hin zum Vorkommen von schutzwürdigen Fledermausarten werden allesamt vom Bürgermeister beantwortet. So kann der Stadtverordnetenvorsteher nach zwei Stunden die Bürgerversammlung schließen.
Für Marburg ist klar geworden, dass die im Koalitionsvertrag formulierte Zielstellung der Errichtung von 12 Windkraftanlagen in weite Ferne gerückt ist. Es wird noch ein längerer Weg sein die beabsichtigen vier Windlräder auf dem Lichter Küppel zu bauen und in Betrieb zu nehmen. Von den vier möglicherweise geeigneten Standortbereichen sind zwei als nachrangig oder sogar ungeeignet zu betrachten.
Damit hat die Diskussion über WKA im Stadtgebiet eine veränderte Grundlage. Belastbare Daten werden allerdings erst mit dem gültigen Regionalplan Wind des Regierungspräsidums ab Jahresende 2012 vorliegen – und nach Auswertung der Windmessung auf den östlichen Lahnbergen. Für gar aufgeregte Diskussionen gibt es nunmehr überhaupt keine Grundlage mehr in Marburg. Dabei haben die Diskussionen und die selbstorganisierte Veranstaltung im Frühjahr, wie sich auch in der Bürgerversammlung gezeigt hat, in jedem Fall produktive Vorarbeiten im Sinne der Bürgerbeteiligung und Durcharbeitung des Themas geleistet.
Marburg als größter Stromverbraucher im Landkreis wird nicht zum relevanten Windstromerzeuger in der Region werden können. Das können nunmehr alle wissen.
Die ☛Ausschnitte aus der Tonaufzeichnung der Ausführungen von Regierungspräsident Lars Witteck sind mit dessen freundlicher Genehmigung hier veröffentlicht.
Alle Grafiken und Karten aus den Vorträgen am Abend von RP Witteck und Bürgermeister Kahle per Fotografie. —>Sie sind als Fotosequenz per Mausklick auf eine der Illustrationen zu betrachten.