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Vom Fehlen bezahlbaren Wohnraums für Menschen mit Handikap – Ein Offenbarungseid der Sozialpolitik

Marburg 1.11.2012 (red) In Marburg ist auf Betreiben der Agendagruppen nachhaltige Stadtentwicklung und der Fraktion Marburger Linke ein Nachdenken und eine Diskussion um die Versorgung mit Wohnraum und insbesondere bezahlbaren Wohnraum in gang gekommen. Auch die SPD hat sich des Themas jetzt angenommen. So fordert aktuell der Ortsverein Richtsberg der Sozial-demokraten die Erstellung eins Wohnungsberichtes seitens der Stadt Marburg. Nach seinen mündlichen Einbringungen bei der Agendveranstaltung zum Sozialen Wohnungsbau stellt Bernd Gökeler hier Forderungen und Vorschläge insbesondere zu Gunsten von Wohnungen, die für Menschen mit Einschränkungen geeignet sind, im Rahmen eines Gastbeitrages vor.

Nach einer erst vor einigen Wochen veröffentlichten Studie steht bundesweit der momentane Bedarf an 5,6 Millionen Sozialwohnungen einem stetig und auch zukünftig sinkenden Bestand von 1,6 Millionen Sozialwohnungen gegenüber, bei gleichzeitig unverändert steigender Zahl von Menschen, die von Armut bedroht sind. Betrachtet man die von der GeWoBau in der vorletzten Ausgabe ihrer hauseigenen Zeitung veröffentlichten Zahlen gilt dieses Bild auch für die Stadt Marburg.

„Gut Leben beginnt mit gut Wohnen“, so ein Gerontologe bei der Veranstaltung der Grünen unter Vorsitz von Dr. Karsten McGovern, wo es um die Notwendigkeit ging, ambulante Altenpflege zu generieren, um nicht in die Pflegenotstandsfalle zu laufen. Ambulante Pflege beginnt aber mit der Schaffung von bezahlbarem barrierefreiem Wohnraum, weil ansonsten die Menschen zwar versorgt werden können, aber die Wohnung zum Gefängnis wird. Das ist heute schon der Fall, wenn Dialyse Patienten die Wohnung im 2. Stock nur noch dann verlassen können, wenn die Krankenkasse den Transfair 2-mal die Woche zur Dialyse bezahlt. Das ist auch der Fall wenn Schlaganfallpatienten aus der Reha nicht nach Hause entlassen werden können, weil sie im unerreichbaren 2. Stock wohnen, und deshalb in Heimen landen. Gleiches gilt für Unfallopfer oder für Menschen mit chronisch fortschreitender Erkrankung. Gibt es in einer solchen Situation nicht rasch bezahlbaren barrierefreien Wohnraum auf dem Markt, ist die stationäre Unterbringung oft auch für junge Menschen der einzige Ausweg.

Von der viel beschworenen und rechtlich zugesicherten Wahlfreiheit zwischen ambulanter und stationärer Pflege kann ob der Gegebenheiten in der Praxis keine Rede mehr sein. Die Letzt verbliebenen Sozialstrukturen im gewohnten Wohnumfeld geht damit ebenfalls verloren, damit oft auch das damit verbundene ehrenamtliche HelferInnen Netzwerk.

Grundvoraussetzung für ALLES ist ein Wohnraum, der den individuellen Bedarfen entspricht, barrierefrei erreichbar ist, im Umfeld über ein Mindestmaß an Infrastruktur verfügt und dabei vor allem bezahlbar bleibt, die II. Miete in Form der Nebenkosten mit eingeschlossen.

Wohnen ist für Menschen mit Handikap  von besonderer Bedeutung, die eigenen vier Wände sind ein geschützter Raum, in dem man sich sicher bewegt, sich manchmal sogar in Normalität geborgen fühlt. Dazu müssen aber spezifische Bedingungen erfüllt sein,
beschränkt auf die exemplarische Darstellung für RollstuhlfahrerInnen bedeutet dies in der Wohnung:

  • Türbreiten mindestens 0,8m besser 1,00m
  • Wendeflächen vor und hinter jeder Tür, um diese öffnen und auch wieder schließen zu können, optimal sind 1,40m x 1,40m
  • Küche, Bad und Toilette mit entsprechender Wendefläche
  • Bodengleiche Dusche
  • Keller, Waschküche und andere Nebenräume barrierefrei erreichbar
  • Die Wohnung sollte mindestens 65qm für eine Einzelperson groß sein, um durch ausreichend Platz zu ermöglichen, dass RollstuhlfahrerInnen an Lichtschalter, Fenstergriffe, Rollladengurte etc. dran fahren können und für den Rückweg Wendefläche zur Verfügung steht.

Es gilt auch zu bedenken, dass private Treffen meist in der Wohnung der/s RollstuhlfahrerInnen stattfinden müssen, weil die Wohnungen der Geher nicht erreichbar sind und noch weniger über eine barrierefreie Toilette verfügen. Man stelle sich in den eigenen 4 Wänden eine kleine Feier mit nur 2 RollstuhlfahrerInnen unter den Gästen vor, selbst größere Wohnungen stoßen dann schnell an Grenzen, wenn nicht ständiges Rangieren die Folge sein soll.

Ausnahmebeispiel für behindertengerchtes Bauen, eines der Atelierhäuser in der Uferstraße. Die GeWoBau hat hinter dem früheren EAM-Gebäude in der Uferstraße einige Wohneinheiten mit besonderer Eignung für Menschen mit Einschränkungen neu gebaut. Foto Hartwig Bambey

Allein an dieser Aufzählung lässt sich leicht ablesen, wie wenige Wohnungen diesen Ansprüchen genügen, meist sind es nur Neubauwohnungen, die nach DIN-Norm errichtet wurden. Tatsächlich wurden in jüngster Vergangenheit auch einige wenige, viel zu wenige, solcher Wohnungen von der Stadt, von der GeWoBau errichtet, die Atelierhäuser in der Uferstraße, allerdings zu einem Mietpreis, den Menschen mit Behinderung nur in den aller seltensten Fällen bezahlen können, gleiches gilt für das im April 2013 bezugsfertige Haus ehemals EAM, in der Diskussion sind auch dort ca. 9 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter.

Rechnet man dies hoch für o.g. Mindestfläche landet man bei 585 Euro Kaltmiete, die Durchschnittsrente aufgrund von Erwerbsunfähigkeit liegt bei etwas über 700 Euro pro Monat, die Grundsicherung liegt sogar noch darunter. Es handelt sich bei beiden Objekten um Sozialwohnungen, welche aber der Sozialhilfeträger wegen der Höhe der Kosten nicht übernimmt.

Das heißt Menschen, die lebenslang ohnehin auf einem schmalen Grad ihren Alltag trotz  massiver Einschränkungen meistern, sind nach VDK Angaben als „Erwerbsminderungsrentner wegen ihrer geringen Bezüge in hohem Maße armutsgefährdet“ (VDK Zeitung 66Jg.) und damit schlussendlich auf dem Mietwohnungsmarkt auch in Marburg fast chancenlos, selbst im sozialen Mietwohnungsneubau.

Bei der Veranstaltung der Agendagruppen zum Thema ‚Sozialer Wohnungsbau’ hat Oberbürgermeister Vaupel in Übereinstimmung  mit den Wohnbaugesellschaften selber eingeräumt, dass Neubau in der Stadt trotz Sozialwohnungsförderung nicht zu den vom Sozialgesetzbuch zu übernehmenden Mieten gebaut werden kann. Dies ist ein Offenbarungseid der Sozialpolitik. Für wen sollen dann Sozialwohnungen von Steuergeldern gefördert werden, wenn nicht für die Menschen mit dem geringsten Einkommen?

Häufig wird dann das Argument eingeführt, dass doch Wohnungen zu bezahlbaren Mieten in den Außenbereichen der Stadt verfügbar sind. Barrierefreier Wohnraum ist aber auch dort Mangelware und vor allem, wie soll man mit den meist eingeschränkten Kräften vom Stadtwald aus an der Gesellschaft teilhaben oder gar Teil der Gesellschaft sein, wie es die UN-Konvention zur Inklusion rechtsverbindlich festlegt. Dies gilt für Sinnes-Behinderte, für Menschen mit geistiger Behinderung,  für psychisch Kranke, für Körperbehinderte, für Mehrfachbehinderte und natürlich auch für Senioren mit entsprechenden Handykaps.

Herr Oberbürgermeister Vaupel stellte bei der Veranstaltung der Agenda zu Recht fest, dass der Druck der Wohnungsinteressenten auf die Innenstadtlagen sehr hoch ist. Aber nur dort ist die Infrastruktur gegeben, um mit möglichst wenigen Barrieren und unter dem Aspekt der eigenen Leistungsfähigkeit und Minimierung der Inanspruchnahme von bezahlten Hilfskräften so viel wie irgend möglich selbständig zu erledigen und zu erleben. Dieser Druck wird sicher noch verschärft, dass Menschen mit Handikap vom Landkreis in die Stadt drängen, weil Wohnungsangebot und Infrastruktur auf dem Land für ein Selbstbestimmtes Leben meist vollkommen ungeeignet sind.

Bei der Diskussion um bezahlbaren Wohnraum wird fast immer auf Harz IV Empfänger abgestellt,  ein großer Fehler, denn es gibt eine ganz große Zahl von Menschen, für die die eigene Situation keinesfalls vorübergehend, sondern lebenslang festgelegt ist.

Durch Krankheit oder Unfall landen Menschen die mitten aus dem Leben gerissen werden ohne eigenes Zutun auf einem Niveau der Erwerbsminderungsrente (EU-Rente) und bleiben dann lebenslang einkommenstechnisch auf der unteren Stufe der Gesellschaft. Bei vielen reicht diese EU-Rente gar nicht zum Leben, weil Sie einfach zu jung krank/behindert wurden, also erst am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn waren, sie sind dann auf Grundsicherung angewiesen, welche auf dem Niveau von Harz IV liegt, aber mit engeren Grenzen des sogenannten Schonvermögens. Daran ändert sich auch lebenslang nichts mehr.

Menschen die von Geburt an behindert sind und aufgrund ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Stelle finden, müssen ebenfalls von den geringen Beträgen der Grundsicherung leben, möglicherweise aufgestockt durch den geringen Betrag der Hinzuverdienstgrenze, die sie in der Werkstatt oder in Arbeitsplätzen mit Assistenz erarbeiten.
Grundsicherung bedeutet, dass das Amt bestimmt, bis zu welcher Höhe die Miete anerkannt wird. Wohnungen auf diesem Preisniveau sind selten mit den oben formulierten Anforderungen zu finden.

Eine dezentrale Wohnlage macht Menschen mit Handikap noch abhängiger von Hilfskräften und  Behindertenfahrdiensten, vor allem macht es sie aber noch einsamer, ein unerträglicher Zustand, der längst nach einer sozialpolitischen Lösung schreit. Wenn wir nicht wollen, dass die Endsolidarisierung durch die Forderung nach Eigenvorsorge weiter die trifft, die keine Chance auf Eigenvorsorge hatten, ist es höchste Zeit zu handeln, auch in Marburg und im Landkreis Marburg-Biedenkopf.

Herr Sozialdezernent Dr. McGovern hat öffentlich einen runden Tisch zu diesem Thema in Aussicht gestellt, Herr Oberbürgermeister Vaupel hat ebenfalls öffentlich einen runden Tisch zum Thema bezahlbarer Wohnraum  in Aussicht gestellt. Die Wohnbaugesellschaften haben beiden beigepflichtet, nun gilt es Nägel mit Köpfen zu machen und zwar mit Köpfen aus allen Sozialbereichen, in denen bezahlbarer Wohnen eine existentielle Frage darstellt.  Jetzt ist die beste Zeit dazu!

Machen Sie – um das Problem in Ihre Lebenswirklichkeit zu  holen – ein kleines Gedankenexperiment. Gehen Sie ihre eigene Wohnung, ihr eigenes Haus gedanklich durch mit dem Blickwinkel einer/s Rollstuhlfahrers, überdenken Sie die Wege die sie täglich gehen unter dem gleichen Gesichtspunkt und betrachten Sie ebenso Ihr Freizeitverhalten, was wäre dann noch machbar?
Wir sind sicher alle der gleichen Auffassung, zu wenig!

Bernd Gökeler
Gruppenleiter der Multiple-Sklerose Selbsthilfegruppe Marburg-Biedenkopf

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