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Dunkle Flecken auf den Uniformen – Studie der Geschichtswerkstatt Marburg über die „Marburger Jäger“ deckt Verbrechen auf

Marburg 18.7.2013 (red) Wir veröffentlichen als Gastbeitrag von Klaus-Peter Friedrich eine Zusammenfassung zur Studie über die ‚Marburger Jäger‘: Seit 2011 wird in Marburg lebhaft über die Sinnhaftigkeit eines Kriegsdenkmals debattiert. Auf einem Privatgelände im Stadtteil Bortshausen südlich des Radwegs war ein Gedenkstein aufgestellt worden, der dem Ruhme der deutschen Teilnehmer am Krieg von 1870/71 gewidmet war und in den letzten Jahrzehnten bei verschiedenen Kasernen gestanden hatte.
Die Aktion ging aus von der Kameradschaft Marburger Jäger / 2. Panzergrenadierdivision (KMJ), die in Bortshausen ein so bezeichnetes Jägerheim besitzt und sich als Wahrerin der Tradition der „Marburger Jäger“ versteht. Bei diesen handelt es sich um als besonders verlässlich eingestufte Militärformationen, die bis 1919 in Marburg stationiert waren. Im Sommer 2011 hielt die Kameradschaft an dem Stein mehrmals militärische Zeremonien ab. Daran entzündete sich Widerspruch von Bürgerinnen und Bürgern im Stadtteil und darüber hinaus. Proteste und Demonstrationen konnten nicht erreichen, dass der ,Stein des Anstoßes‘ entfernt wurde.
Im Verlauf der öffentlichen Debatte richtete sich der Blick jedoch nun auch darauf, welcher Art Traditionspflege sich die KMJ verschrieben hat. Die Geschichtswerkstatt Marburg hatte sich dieses Themas schon in den 1980er Jahren angenommen. Daher wurde sie im vorigen Jahr von der Marburger Stadtverordnetenversammlung mit der Erarbeitung einer kurzen Geschichte der „Marburger Jäger“ beauftragt, und es wurde ein Betrag von 10.000 Euro bereitgestellt. Die Geschichtswerkstatt stellte weitere Mittel zur Verfügung und ging eine Kooperation mit Vertretern der Zeitgeschichtlichen Dokumentationsstelle Marburg (ZDM) ein. Zwei Wissenschaftler der Geschichtswerkstatt übernahmen die Materialsuche und Recherchen in Bezug auf die Tätigkeit der von 1866 an in Marburg kasernierten bzw. seit 1914 kriegführenden Jägerbataillone sowie auf die in der Folgezeit betriebene Traditionspflege in den entsprechenden Vereinigungen (Vereine, SA-Abteilungen und Kameradschaften) – bis zu deren Verbot durch die Alliierten 1945. Eine Autorin und ein Autorenkollektiv des ZDM stellten die stark intensivierte Aktivität der Kameradschaft, die 1979 neu gegründet wurde, bis hin zu den in jüngster Zeit eingegangenen Verbindungen mit der Fördergemeinschaft für Soldatenverbände zusammen.
Laut einem Rundbrief der KMJ aus dem Jahr 2002 sei die Geschichte der Jägertruppen aus Hessen „durchgängig ein Beispiel für großartiges Soldatentum u. deshalb vorbehaltlos tradierbar“. Diese Behauptung trifft nachweislich nicht zu. Sie zeigt vielmehr, dass die KMJ-Aktivisten die Geschichte der „Marburger Jäger“ nicht kennen (wollen) – oder gewisse unliebsame Aspekte vorsätzlich verschweigen.
Bei den Forschungen im Bundesarchiv in Berlin und Freiburg, bei der Durchsicht der zeitgenössischen Zeitschriften in der Deutschen Nationalbibliothek und der einschlägigen Literatur in den Marburger und auswärtigen Bibliotheken stellte sich vielmehr schnell heraus, dass der Kampfeinsatz gegen militärische und zivile Gegner in mehreren Fällen alles andere als beispielhaft war: Nach dem Sieg über Frankreich im Januar 1871 halfen die Marburger Jäger den französischen Regierungstruppen, die Pariser Kommune niederzuschlagen – Marburger Soldaten schossen auf die Fliehenden bzw. hinderten sie an der Flucht. Elf Freiwillige des Kurhessischen Jäger-Bataillons Nr. 11 wirkten 1900/01 in China an der Niederwerfung des antiimperialistischen Aufstands der Boxer mit. 23 Marburger Jäger beteiligten sich 1904/05 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, am Völkermord an den Herero und Nama.
Im August 1914, während des deutschen Angriffskriegs auf Belgien, nahm das Marburger Jäger-Bataillon Nr. 11, sächsischen Truppen unterstellt, an Kriegsverbrechen teil, die sich gegen die belgische Zivilbevölkerung richteten. Die Angreifer begegneten dem Widerstand der Einheimischen, der in deutschen Zeitungen als „tierisches Verhalten“ diffamiert wurde, mit brutaler Gewalt. In der Kleinstadt Dinant starben insgesamt 674 Zivilisten, als die deutschen Eroberer „Strafaktionen“, Geiselerschießungen und ähnliche Willkürakte durchführten – in den Augen der beteiligten Marburger Jägertruppe waren die Massaker am 23. August ein „Großes Strafgericht“. Nach dem Krieg verlangte die belgische Regierung vergebens die Auslieferung des als Kriegsverbrecher gesuchten Kommandeurs Max Graf von Soden. Während in Belgien zahlreiche Kriegsverbrecher in Abwesenheit verurteilt wurden, strengte der Oberreichsanwalt beim Reichsgericht bloß halbherzige Ermittlungen gegen den Kommandeur an, ohne das belastende Material aus Belgien zu berücksichtigen, sodass dieser, 1925 von allen Vorwürfen angeblich entlastet, nicht verurteilt wurde. In der Zwischenzeit betätigte sich der Major im Ruhestand in Marburg eifrig bei den schon 1919 gebildeten Kameradschaftsvereinigungen.
Das Reserve-Jäger-Bataillon Nr. 11 war im Weltkrieg weit herum gekommen und hatte – genau wie die anderen Jäger-Bataillone – enorme Verluste zu beklagen. Trotzdem war der Eifer noch im Herbst 1918 so groß, dass man sich freiwillig zu Grenzschutzaufgaben in Oberschlesien verpflichtete. Diese bestanden nach eigenem Verständnis darin, Oberschlesien „vor den Spartakisten und den Polen für das Deutschtum“ zu retten (so die 1927 erschienene Geschichte des Reserve-Jäger-Bataillons Nr. 11). Dabei wurden soziale Bewegungen mit aller Härte bekämpft: Bei einer Massendemonstration für gerechtere Löhne und gegen das nach Königshütte verlegte Militär, das die Protestierer einschüchtern sollte, feuerten am Nachmittag des 3. Januar 1919 die Reservejäger mit einem Maschinengewehr in die andrängende Menge und richteten ein Blutbad an: Eine Woche später wurden die 20 Niedergeschossenen, unter ihnen mindestens eine Frau und zwei Jugendliche, unter großer Anteilnahme der Einwohner beerdigt.
Die Marburger Jäger-Bataillone wurden 1918/19 aufgelöst. Aber mehrere Traditionsvereinigungen, die sich in der Regel entweder aus ehemaligen Offizieren oder früheren Frontsoldaten zusammensetzten, bereiteten zusammen mit anderen militaristischen, für den Revanchekrieg eintretenden Organisationen das Klima für die nationalsozialistische Machtübernahme vor, die in Marburg reibungsloser als anderswo vonstattenging. Den Schulterschluss mit den Einwohnern Marburgs suchte man auf den anfangs jährlichen, dann in größeren Abständen, doch immer pompöser abgehaltenen Wiedersehensfeiern, die als „Jägertage“ tituliert wurden. Der Jägertag vom August 1933 machte deutlich, dass die mit der politischen Entwicklung hoch zufriedenen, ja begeisterten Ehemaligen und Weltkriegs-Veteranen im Gleichschritt „mit den braunen Kämpfern des dritten Reiches“ (Oberhessische Zeitung) marschieren wollten. Die örtliche SA, der sich in Stadt und Kreis Marburg Tausende angeschlossen hatten, trat von Juli 1933 an offiziell als SA-Standarte Jäger 11 auf. Die Verbrechen der SA beim Terror gegen die jüdische Bevölkerung, bei der Verfolgung Andersdenkender und bei der Zerstörung der Synagoge sind daher mit dem Namen der Marburger Jäger unauflöslich verbunden.

Bekanntestes Opfer der SA-Standarte Jäger 11 war der Mediziner Jakob Spier, der Ende August 1933 von Angehörigen des Sturms 4 durch die Straßen Marburgs getrieben und öffentlich angeprangert wurde. Ihm hängten seine Peiniger ein Schild um den Hals, auf dem geschrieben stand: „Ich habe ein Christenmädchen geschändet!“ Das an der Weidenhäuser Brücke aufgenommene überlieferte Foto wurde schon mehrfach im Internet veröffentlicht und steht somit weltweit – stets mit Marburg verbunden – für die Not der jüdischen Deutschen im Vorfeld des nationalsozialistischen Vernichtungswahns.
Die Stadt Marburg hat sich bei mehreren Gelegenheiten darum bemüht, die „dunklen“ Flecken ihrer Geschichte aufzuarbeiten und damit die Opfer des NS-Regimes dauerhaft in Erinnerung zu halten, zuletzt in Bezug auf die Deportation jüdischer Marburger nach Riga. Sie hat dafür – auch international – viel Lob und Anerkennung erfahren. Die KMJ hingegen leugnet ihre Verantwortung der Geschichte gegenüber. Und zwar bis zum heutigen Tag: Bei der Vorstellung der Studie am 19. Juni im Stadtverordnetensaal fand der zur Gegenrede eingeladene Vertreter der KMJ keine Worte des Bedauerns über die von den Jägern und „ihrer“ SA-Standarte begangenen Verbrechen.

Dabei wartet Dinant noch immer darauf, dass die Nachkommen derjenigen, die getötet haben, sich zu deren Handlungen bekennen – und damit für sich selbst moralische Verantwortung übernehmen. Eine solche Initiative muss von unten, aus den Herkunftsorten der Beteiligten kommen. Sie darf sich also nicht darauf beschränken, für die Täter eine – weitgehend folgenlose – Entschuldigung von Regierungsseite auszusprechen, wie dies 2001 der damalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium Walter Kolbow in Dinant getan hatte. Ohne Würdigung der Opfer werden die traumatisierenden Massenerschießungen vom August 1914 für Dinant eine nicht vernarbende Wunde bleiben.
In Marburg wiederum ist die Abwesenheit der sinnlos Getöteten in der städtischen Erinnerungskultur eine heikle und beunruhigende Leerstelle. Sie wird sich erst füllen, wenn wir nicht nur die kriegstoten Marburger Jäger betrauern, sondern uns auch mit den Namen, den Gesichtern und den Lebensgeschichten ihrer Opfer bekannt machen können.

Die Studie „Zur Geschichte und Nachgeschichte der Marburger Jäger“ steht im Netz unter http://www.marburg.de/de/125876?-cm; ein Ausdruck kann bei der Stadt Marburg bestellt werden.
Dr. Klaus-Peter Friedrich, Historiker, war von 2005 bis 2012 Mitarbeiter an dem Editionsprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ des Instituts für Zeitgeschichte. Er ist 2. Vorsitzender der Geschichtswerkstatt Marburg.

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