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Das erste Buch zum Libyen-Krieg

Marburg 12.7.2012 (yb) Vorbei die Zeit der sogenannten ‚Arabellion‘. Wer spricht noch über Tunesien? In Ägypten hat der Militärrat das neugewählte Parlament mit der Mehrheit der Muslimbrüder abgesetzt. Syrien wird von wachsendem zunehmend vom Ausland befeuertem Bürgerkrieg zerrissen. Die Nachrichtenlage zu Libyen ist gleich null. Als Band 26 der ‚Schriftenreihe zur Konfliktforschung‘ des Marburger Arbeitskreises für Konfliktforschung haben Johannes M.Becker und Gert Sommer das erste Buch zum Libyen-Krieg herausgegeben. >Der Libyen-Krieg Das Öl und die „Verantwortung zu schützen“<, erschienen im LIT Verlag, vereint Beiträge von 13 AutorInnen auf 282 Seiten. Die Herausgeber legen mit dem Sammelband ein stringent analytisches Werk als anspruchsvolles Lesebuch vor. In den Ausführungen von Friedensforschern, Politikwissenschaftlern, Sozialwissenschaftlern und Völkerrechtlern wird eine tiefschürfende Analyse zu Umfeld und Genese des Krieges gegen Gaddafi mit Akzentuierung der völkerrechtlichen Fragestellungen der militärischen Intervention in NATO-Regie angegangen. Bietet das Konzept der ‚Responsibility to Protect‘, also ‚Verantwortung zu schützen‘, hinreichende Legitimation für das kriegerische Eingreifen? Waren der behauptete Schutz der Zivilbevölkerung die maßgeblichen Motive oder ging es um ein ‚regime change‘ in dem ölreichen nordafrikanischen Land? Der Beantwortung dieser Fragen – und damit zugleich völkerrechtlichen Einordnung – widmen sich in diskursiver Näherung gleich mehrere Autoren.

Nach informativen Grunddaten zu Libyen entwickeln die Herausgeber zunächst einen 20seitigen Problemaufriss. Bei den „vier großen Kriegen … der westlichen Wertegemeinschaft“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Anfang der 1990er Jahre haben die Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und Irak das Völkerrecht verletzt. Für das Eingreifen in Libyen gab es in Gestalt der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats vom 17.3.2011 eine Billigung militärischen Eingreifens, welche dann prompt durch 14 Staaten erfolgte. Die Begründung dieser UN-Resolution, die Zivilbevölkerung zu schützen (Responsibility to Protect – RtP), machte den Libyen-Krieg zunächst zum Völkerrecht konform. Als humanitär menschenrechtlich begründete Militärintervention könnte es um so etwas wie ‚Gerechten Krieg‘ gegangen sein. Wurde damit gar eine Schablone oder Deckmantel für zukünftige Einsätze geliefert und geschaffen? In diesem „Spannungsverhältnis zwischen der Souveränität der einzelnen Staaten und dem Schutz der Menschenrechte“ –  bei beidem in Bezugnahme auf die UN-Charta – kommt dem Libyen-Krieg zunächst nur singuläre, von Autoren des Buches jedoch befürchtet, perspektivisch womöglich examplarische Bedeutung zu. Becker und Sommer zeigen am Verlauf und Ergebnis für Libyen auf, dass ein ‚regime change‘, also die Absetzung von Gaddafi und des mit ihm verbundenen Regimes, sehr bald zum Kriegsziel wurde. Drohen zukünftig neue imperiale Kriege in Verbrämung humanitärer Zielsetzungen nunmehr mit völkerrechtlicher Legitimation ausgestattet? Wer will, kann diese Frage als übergeordnetes Leitthema des Buches betrachten.

Im ersten Kapitel von Oliver Demny zur ‚Geschichte Libyens von der Revolution bis heute‚ bekommt der Leser Hintergrundinformation zu Gaddafis Putsch, Wirtschaft, Innenpolitik, Ideologie und Außenpolitik. In den letzten Jahren hatte sich Gaddafi dem Westen angenähert bis hin zu Waffenlieferungen, etwa aus Frankreich bis kurz vor Kriegsbeginn mit dann maßgeblich französischer Beteiligung. Gestützt auf seinen Ölreichtum, dessen Wertschöpfung nicht von ausländischen Konzernen expropriiert wurde, belegte Libyen beim ‚Human Development Index‘ der Vereinten Nationen Platz 56 von 177, konnte seiner Bevölkerung deutlich mehr bieten als alle Nachbarstaaten.

Danach wird ‚Internationale Schutzverantwortung – der lange Weg der UNO vom Konzept zur Norm‚ von Hans von Sponeck (Müllheim) referiert. Das Spannungsverhältnis zwischen einzelstaatlicher Souveränität und Schutz von Menschenrechten wird entfaltet bis hin zur Problemstellung, dass hier derzeit keine Überführung als internationale Rechtsnorm anstehe.

Libyen und das Völkerrecht‚ thematisiert Norman Paech in Kapitel 3. Er entfaltet das Zustandekommen der Resolutionen 1970 und 1973 des UN-Sicherheitsrates, womit die Militärintervention legitimiert wurde. Dazu erläutert Paech das neue Konzept der ‚Responsibility to Protect‘ aus einer Initiative der Kanadischen Regierung im Jahr 2001. Paech beklagt und erläutert den Missbrauch der UN-Resolution durch die NATO in Gestalt von „nachfolgenden Militäraktionen“ als mittels Einsatz vor allem der französischen Luftwaffe das Ziel, die Zivilbevölkerung zu schützen, längst erreicht war. Gaddafi geriet (und war zuvor längst) in das Visier der Interventionisten, wobei „sich die NATO nicht offen und aktiv auf die Seite der Aufständischen schlagen durfte, um deren politische Ziele zu erreichen.“ So konstatiert Paech zum Libyen-Krieg, er habe „alle Merkmale eines spätkolonialen Feldzuges.“

Kapitel 4 widmet über 30 Seiten einem von Herausgebern moderierten ‚Streitgespräch zu „Responsibility to Protect“ zwischen Michael Daxner und Norman Paech‚. Ohne Dissens der beiden Diskutanten in der Bewertung der Bedeutung der Menschenrechte  artikuliert Daxner seine Position, wonach die RtP als vorrangig zu bewerten sei: „Diese Schutzpflicht degradiert auf jeden Fall, nach verhältnismäßig strengen Kriterien, das Nichteinmischunsgebot als sekundär.“ Norman Paech betont die Konfliktstellung zur Bedrohung staatlicher Souveränität. Diese sei „letzten Endes die letzte und einzige Bastion schwacher Staaten gegenüber starken Staaten. Schwache Staaten können sowohl gegenüber ökonomischen, politischen als auch gegenüber militärischen Interventionen nichts anderes tun, als sich auf ihre Souveränität zu berufen.“ Der Diskurs leistet hier viel (mehr) und verlangt dem Leser bei Angebot differenzierter Argumente eine Menge ab.

Nachfolgend bringt Jürgen Wagner im Kapitel ‚Der Libyenkrieg und die Interessen der NATO‚ vieles unter Gesichtspunkten ökonomischer und strategischer Interessen auf den Punkt. Als Motive werden „Krieg für Öl und Profit“ und „Beseitigung des unsicheren Kantonisten Gaddafi“ genannt. Hinzu komme eine „Kaperung der Revolutioen“ und in dieser weiteren „out-of-area Operation der NATO“ eine neue Art der Kriegsrechtfertigung, diesmal zudem im Unterschied zu Afghanistan ‚erfolgreich‘.

In weiteren Kapiteln beschäftigt sich Uli Cremer mit Aspekten von ‚Deutschland, Frankreich und der Libyenkrieg‘. Johannes M. Becker erörtert ‚Das neue Bild von Krieg. Von den Hintergründen des Schweigens der Kriegsgegner beim Libyen-Krieg‚. Er geht dabei auch auf die Rolle der Öffentlichkeit und das Schweigen der Friedensbewegung ein. Werner Ruf thematisiert ‚Libyen und die arabische Welt.‘ Karin Leukefeld macht eine Betrachtung zu ‚Medien im Krieg‚. Gert Sommer thematisiert ‚Der Libyen-Krieg: Reflektionen zu Gaddafi und anderen Beteiligten‚. Gertrud Brücher beschreibt ‚Die Eskalation des Libyen-Krieges und die Menschenrechte‚. Von Herbert Wulf kommt die Betrachtung ‚Libyen: Land voller Waffen‚. Das letzte Kapitel von Claudia Kleinwächer beschäftigt sich mit ‚Libyen – Kulturlandschaften in Zeiten des Krieges‘.

Wissenschaftliches Lesebuch für vielseitige diskursive Annäherung

Der/die Leser/in hält damit ein recht umfassendes Werk in den Händen, dem es bei klarer Schwerpunktsetzung völkerrechtlicher Fragen mit Betrachtung möglicher Konsequenzen gelingt, sich der Materie vielseitig zu nähern und viele Angebote zu Verständnis und Interpretation zu liefern.
Kurze Zeit nach dem Kriegsgeschehen legen die Herausgeber damit bereits eine wissenschaftliche Auseinandersetzung vor. Diese lässt sich gut rezipieren und überzeugt mit ihrer thematisch aufgefächerten, teils kontroversen Annäherung. Das Buch macht mit seiner gelungenen Auswahl kompetenter Autoren beste Angebote für weitergehendes Verstehen von Fragen zum Libyen-Krieg und seiner Hintergründe.
Nicht zuletzt zur Einordnung der anhaltenden Gewalthandlungen in Syrien und zur hegemonial-kriegerischen NATO-Politik wird damit kritisch machender Lesestoff als orientierendes ‚Rüstzeug‘ geboten.

Johannes M. Becker, Gert Sommer (Hg.)
Der Libyen-Krieg
Das Öl und die „Verantwortung zu schützen“
Schriftenreihe zur Konfliktforschung Band 26
des  Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens und Abrüstungsforschung (AMW)
14,5 x 20,5 cm, 288 Seiten im Klebeeinband
LIT Verlag ISBN 978-3-643-11531-7
Ladenpreis 24,90 Euro

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