Homer und Europa – Lexikonprojekt abgeschlossen
Marburg 22.10.2010 (wm/red) Die Göttinger Akademie der Wissenschaften hat unter maßgeblicher Marburger Beteiligung das „Lexikon des frühgriechischen Epos“ (LfgrE) vollendet, das vor 65 Jahren begründet worden ist. Zum Abschluss fand in Hamburg ein Treffen der besten Homer-Kenner der Gegenwart statt, organisiert vom Altphilologen Arbogast Schmitt von der Philipps-Universität. Schmitt hat das Lexikon als Vorsitzender der Leitungskommission der Göttinger Akademie seit vielen Jahren betreut. „Es handelt sich um eines der wenigen langfristigen Großprojekte der Klassischen Philologie“, erklärt Schmitt. Das „Lexikon des frühgriechischen Epos“ beschäftigt sich mit den ältesten Texten der griechischen Literatur. Es sind die homerischen Epen „Ilias“ und „Odyssee“, die Gedichte von Hesiod und die sogenannten „Homerischen Hymnen“. Die Vollendung des Vorhabens wurde im In- und Ausland gewürdigt.
Begründet nach II.Weltkrieg
Das Lexikon geht auf die Initiative von Bruno Snell zurück, bedeutender Klassischer Philologe des 20. Jahrhunderts. „Er begründete das Projekt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, um mit der Analyse der sprachlichen Grundlagen Europas ein Gegengewicht zur geschichtsvergessenen Kulturlosigkeit im damaligen Deutschland zu schaffen“, berichtet Schmitt. „Der Grundgedanke war, dass nur eine Analyse der Sprache die Basis für ein wirkliches Verständnis der europäischen Kultur bieten könne.“ Homer sei für dieses Verständnis deshalb wichtig gewesen, weil bei ihm ein dokumentierbarer Wendepunkt nachzuweisen war, von dem aus sich das große Projekt der europäischen Aufklärung entwickeln konnte.
Hermeneutische Aufgabenstellung
Hinzu kam die Rezeption und Wertschätzung Homers, die sich durch die europäische Geistesgeschichte belegen ließ. „Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Homer zusammen mit seinem ersten großen Nachahmer Vergil auch neuzeitliche Literatur und Literaturtheorie mitgeformt hat“, erläutert der Marburger Altphilologe.
Schmitt verweist auf das Verdienst Bruno Snells, mithilfe des modernen Apparats der Altertumswissenschaften die hermeneutische Aufgabe neu anzugehen, den Zeitabstand zu Homer zu überbrücken. Dies sei zuallererst eine sprachliche Aufgabe. In welchen Bedeutungen werden Wörter bei Homer gebraucht, welchen Gegenständen und Vorgängen sind sie zugeordnet? Der Grundaufbau des Lexikons ist bis heute gleich geblieben. Es verzeichnet alle im Textmaterial vorkommenden Wörter und Namen mit Belegstellen. Jeder Eintrag enthält Abschnitte über Etymologie, über die Stellung im Vers, über die antiken Erklärungen und über die moderne Sekundärliteratur. Im Mittelpunkt steht Bedeutungsanalyse.
Homer als Vollender einer Dichtungstradition
Die Forschung erfuhr während der langen Bearbeitungszeit viele Veränderungen. „Snell wollte noch an der Sprache Homers die ersten, ursprünglichen, der Entdeckung des Geistes vorausgehenden Anfänge des europäischen Denkens demonstrieren“, führt Schmitt aus. „Heute wissen wir, dass Homer kein Anfang war. Er führt vielmehr eine lange Dichtungstradition zur Vollendung.“ Die Besonderheit der homerischen Sprache, ihre Mischung aus Formen und Inhalten verschiedener Zeiten und Regionen habe durch die neuen Forschungsergebnisse deutlicher und genauer dokumentiert werden können als in dem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz Snells.
Die Hamburger Tagung verdeutlichte Relevanz des Lexikons für das Verständnis der Besonderheit der europäischen Frühzeit. Den Eröffnungsvortrag hielt der Doyen der deutschsprachigen Homerforschung, Professor Joachim Latacz aus Basel, der ein großes Publikum mit einer Darstellung der Höhepunkte des homerischen Einflusses auf die europäische Kultur begeisterte.