Die Musikalität und Wirkung von Sprache
Marburg 3.11.2010 (pm/red) In der Aula der Alten Universität diskutierten die Buchpreisgewinnerin Melinda Nadj Abonji und die SPIEGEL-Redakteurin Claudia Voigt die Frage, warum Romane gelesen werden sollten. In der Begrüßung hob Unipräsidentin Katharina Krause hervor, dass die Debatte hervorragend zum Studienschwerpunkt Literaturvermittlung in den Medien der Marburger Germanistik passe. Im Rahmen eines Studierendenprojekts sei dort ein anderes Beispiel für die Wirkungsmacht von Literatur entstanden, die Anthologie „Mein Lieblingsgedicht. Prominente antworten. Von Elke Heidenreich bis Richard von Weizsäcker“.
Ich denke mit meinem Ohr, nicht mit meinem Hirn
Die 42jährige Literatin, Slam-Poetin und Musikerin Melinda Nadj Abonji las aus ihrem Roman „Tauben fliegen auf“, das vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem Buchpreis ausgezeichnet wurde. Dann gab sie gerne Auskunft über ihre Arbeit. Prägend für ihren Umgang mit Sprache sei ihre enge Beziehung zur Musik gewesen, antwortete die Autorin auf die Frage nach dem Ursprung ihrer „weit ausschwingenden, rhythmisierten Sätze“. Sie versuche, sich der musikalischen Zeichensetzung sprachlich anzunähern, wozu das Deutsche mit seinen mannigfaltigen Verwendungsmöglichkeiten von Punkten und Kommata reiches Potential biete. „Ich denke mit meinem Ohr, nicht mit meinem Hirn“, erklärte Melinda Nadj Abonji. Sie versuche, zuerst Erfahrungen zuzulassen, ihrer Musikalität nachzuspüren, bevor sie mit dem Kopf darauf reagiere, und diese dann sprachlich nachzuvollziehen.
Migrantenschicksal Sprachverlust
Für die Tochter von Immigranten, war die erste Erfahrung in der neuen Schweizer Heimat Sprachlosigkeit. „Meine Pflegefamilie sprach nur Schweizerdeutsch, ich sprach nur Ungarisch“. Für die pausenlos arbeitenden Eltern, die schlecht ausgebildet, aber voller Hoffnung auf besseres Leben emigriert waren, fungierten die Kinder lange Zeit als Übersetzer, erzählte sie. Obwohl ihnen selbst für Integration schlicht die Zeit gefehlt habe, setzten die Eltern auf Bildung für die Kinder und den Erwerb von Deutschkenntnissen für sich selbst.
Die Kindheitserfahrung Kulturschock und Sprachlosigkeit weckten eine ungeheure Lust am Experiment und Spiel mit der Sprache, berichtete die Schriftstellerin weiter. Ihr intuitiver Schreibstil versuche der inneren Stimme zu folgen anstelle Struktur und Figuren festzulegen. „Mein Studium der Geschichte und Literaturwissenschaft möchte ich aber keinesfalls missen“, betonte Nadj Abonji. Insbesondere ihr Dozent Herbert Gamper habe sie gelehrt, Texte wirklich und sehr sorgfältig zu lesen, so dass sie erkennen lernte, wenn am eigenen Text etwas nicht stimmte. Rund 160 Romanseiten habe sie umgeschrieben, als sie gemerkt habe, dass in einer Art Selbstschutzmechanismus der Ton zu ironisch-distanziert geraten war: „Verletzlichkeit eines Textes ist wichtig, um Menschen zu berühren“.
Biographie grundiere ihren Roman, versicherte Nadj Abonji auf Nachfrage, er sei aber weder Autobiographie noch Geschichtsschreibung: „Das Leben lässt sich nicht abschreiben“. Doch habe sie sich schreibenderweise Dinge angeeignet, die sie nicht erlebt habe und so eine fiktive Variante der Wahrheit geschaffen.
Preisträgerin des Börsenverein
Der Roman „Tauben fliegen auf“ wurde auf der Frankfurter Buchmesse vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels kürzlich als bester deutschsprachige Roman 2010 ausgezeichnet. Aus der Sicht einer jungen Frau erzählt sie von einer Familie, die aus Serbien in die Schweiz zieht, dort eine Gastronomenexistenz aufbaut und am Vorabend der jugoslawischen Kriege in die alte Heimat reist. So gebe das Buch ‚Tauben fliegen auf‘ das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europas im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen habe, bekundete die Buchpreis-Jury.
Hintergrund
Seit dem Sommersemester 2007 diskutieren SPIEGEL-Redakteure an deutschen Hochschulen mit prominenten Gästen. So sprach Claus Peymann im Mai 2007 an der Philipps-Universität Marburg über Theater und politisches Engagement.