Slumdog Millionaire unmittelbar – wenn Touristen die ärmsten Armen besuchen
München, Marburg 17.3.2011 (pm/red) Der diesjährige Marburger Kamerapreis ist gerade verliehen worden. Er ging an Anthony Dod Mantle, der als Kameramann den Film Slumdog Millionaire gemacht hat. Slumdog Millionaire erzählt die Geschichte eines modernen Aschenputtels und wurde dafür 2008 mit Oscar für den besten Film und die Kameraführung ausgezeichnet. Für viele Zuschauer ist dieses Werk Anstoß, unterprivilegiertes Dasein der Slumbewohner in Augenschein zu nehmen. Die Ethnologin Professor Eveline Dürr hat das Phänomen Slumtourismus an einer mexikanischen Müllhalde untersucht, die mehreren Hundert Menschen ein Auskommen sichert – und US-amerikanischen wie kanadischen Touristen auf Slumtour einen Einblick ins Elend erlaubt. Werden die Slumbewohner hier ausgebeutet oder erstmals wahrgenommen?
Müllhalde wird Attraktion – für Touristen
„In diesem Fall profitieren wohl einige Müllsammler von den Touren“, sagt Dürr. „Slumtourismus kann sich aber auch negativ auswirken. Etwa wenn Bewohner im Elend verharren, obwohl sich ihre Situation gebessert hat – nur um den Slum vermeintlich authentisch zu erhalten.“ Die mexikanische Müllhalde gilt mittlerweile als Touristenattraktion, auch wenn sie den reicheren Einwohnern der Stadt ein Dorn im Auge ist. Was in städtischer Umgebung sonst als unerwünschte Verschmutzung wahrgenommen wird und wie sich dies auf das soziale Miteinander auswirkt, ist Thema des Buches Urban Pollution, das Dürr vor Kurzem herausgegeben hat. Müll und Abwasser sind dabei nur eine Ausprägung von Unrat – auch Migranten oder etwa Obdachlose werden nicht selten als Schandfleck wahrgenommen.
Elendsviertel als merkwürdiger Ausdruck unserer Zivilisation
Weltweit lebt mindestens eine Milliarde Menschen in Slums. Diese Elendsviertel bilden sich als Folge der Landflucht vor allem an Großstädten der südlichen Hemisphäre. Ihre Bewohner haben meist keine Adresse, sind nicht gemeldet. Die Slums selbst sind häufig auf keiner Karte verzeichnet, auch wenn sie mehrere Tausend Menschen beherbergen. In den letzten Jahren hat die Lebenswelt der Ärmsten der Armen von unerwarteter Seite Beachtung gefunden. Slumtourismus heißt das Phänomen, bei dem meist gut betuchte Urlauber in Elendsviertel fahren.
In der Wissenschaft stößt der Slumtourismus auf Interesse, weil sich die Armutstouren mittlerweile weltweit etabliert haben, ob in afrikanischen Townships, brasilianischen Favelas oder in Dhavari, eine der ärmsten Gegenden Mumbais und größter Slum Asiens. Die Ethnologin Professor Eveline Dürr hat touristische Touren in der mexikanischen Stadt Mazatlán untersucht. Hier hat sich ein Slum an einer Müllhalde gebildet, die mehreren Hundert Müllsammlern über wiederverwertbare Materialien ein Auskommen bietet.
Touristische Touren für amerikanische und kanadische Rentner
Anbieter der kostenlosen Touren ist dort eine US-amerikanische Kirche, die sich in der Stadt in anderen Projekten sozial und getrennt davon missionarisch betätigt. Bei den Organisatoren der Touren handelt es sich überwiegend um amerikanische und kanadische Rentner, die die Wintermonate in Mazatlán verbringen. Meist ist es eine Mischung aus Abenteuerlust und humanitären Ambitionen, die vergleichsweise gut situierte Touristen auf Slumtour gehen lässt – um von ihrer Luxusenklave mit Golfklub und Strand aus den ebenso streng abgeriegelten Slum zu besuchen.
Dort bekommen sie Einblick in das Leben der Müllsammler, die unterschiedlichen Stufen des Recyclings, und teilen dann Wasserflaschen und Sandwiches aus, die sie vorher zubereitet haben. Das stößt nicht nur auf Begeisterung. „Manche Slumbewohner schämen sich ihrer Situation und wollen weder gesehen werden noch Geschenke annehmen“, berichtet Dürr, die intensive Gespräche mit Menschen auf der Müllhalde, Touristen und Touranbietern geführt hat. „Sehr umstritten ist auch die Praxis mancher Tourguides, die Touristen in die privaten Unterkünfte der Slumbewohner zu führen. Vielen Betroffenen ist dieser Eingriff in die Privatsphäre zu viel, was dann aber von den Tourguides respektiert wird.
Der Slum wird zum Themenpark
Einige Slumbewohner sind stolz, dass sich Menschen aus aller Welt für ihre Situation interessieren. „Einige Müllsammler in Mazatlán profitieren von Touristen“ bekräftigt Dürr. Trotzdem ließen sich Armutstouren nicht über einen Kamm scheren. Bei kommerziellen Touren müsss sichergestellt sein, dass Slumbewohner finanziell teilhaben, ohne dass es zu Verteilungskämpfen komme. Zu gewährleisten sei, dass Slumbewohner nicht auf Verbesserung der Situation verzichten, um authentisch Erwartungen von Touristen zu entsprechen. Es sei die Tendenz zu beobachten, dass Elend pittoresk und Slums zum Themenpark werden.
Soziale Wirklichkeit ist brutal anders
Nicht selten gelten Menschen, die mit Müll zu tun haben, als unrein. So ist diese Aufgabe in Indien den unberührbaren Dalit vorbehalten, während in muslimischen Ländern häufig Nicht-Muslime für den Müll zuständig sind. Armut an sich kann ein Schandfleck sein. Dies müssen Obdachlose erfahren, die in Indien und anderen Ländern nachts aufgegriffen und gegen ihren Willen aus der Stadt verfrachtet werden. In Brasilien wurden in den 1990er Jahren Straßenkinder umgebracht – von Polizisten und im Auftrag reicher Bürger.
In anderen Fällen aber genügt es, fremd in der Gesellschaft zu sein, um als schmutzig zu gelten, wie etwa im Falle von Migranten mit anderer ethnischer Zugehörigkeit. „Das gilt dann als eine Art kulturelle Verschmutzung“, sagt Dürr. „Diese Wahrnehmung basiert auf dem Konzept einer natürlichen Ordnung, die festlegt, wer und was wohin gehört. Während im Westen gegen den Bau von Moscheen gekämpft wird, wehren sich andere Gesellschaften gegen die Ausbreitung bestimmter Fastfood-Ketten. Die eigene Nation hängt dann ab von Ideen der ethnischen und kulturellen Homogenität.
Vertiefend findet sich diese Phänomen und Themen in der Publikation beschrieben:
Urban Pollution. Cultural Meanings, Social Practices.
herausgegeben von Eveline Dürr und Rivke Jaffe
Berghahn Books, 1. August 2010