Schüler, Eltern, ihre Schule und der Brief aus Wiesbaden
Marburg 14.4.2011 (yb) Es ist nicht alltäglich, dass Schüler mit Freude motiviert lernen, ihre Eltern darüber zufrieden sind, die Lehrer gerne sogar Mehrarbeit einbringen und mit der Schulleitung einig sind. Davon erzählt Volker Gawantka am Montagabend in der letzten Schulwoche vor den Osterferien in Hessen. Der Elternbeirat hat zu einem Informationsgespräch in die Theodor-Heuss-Schule eingeladen. Zwei Lehrerinnen und ein Lehrer sind gekommen und dazu drei Mütter, um zu berichten was gut war und gut läuft an ihrer Schule – jetzt aber akut bedroht ist und sich in einem Brief aus dem Wiesbadener Kultusministerium schwarz auf weiß im Behördendeutsch mitgeteilt findet. Es geht um den Schulversuch der Umwandlung in eine ergebnisoffene Haupt- und Realschule gemäß § 14 (1) HSchG. Letzteres steht für Hessisches Schulgesetz.
Der Paragraph 14 des hessischen Schulgesetzes regelt Schulversuche und Versuchsschulen. Kurz und bündig findet sich darin festgelegt, was in der Marburger THS, wie die Theodor-Heuss-Schule gerne genannt wird, nunmehr im zweiten Jahr zur neuen und veränderten Lernwirklichkeit geworden ist.
(1) Durch Schulversuche in bestehenden Schulen soll die Weiterentwicklung des Schulwesens gefördert werden.
Der Schulversuch hat vieles verändert
Nach ausführlicher Vorbereitung, grundständig von der Stadt Marburg als Schulträger gewollt, ist der Theodor-Heuss-Schule der Schulversuch zur „Umwandlung der verbundenen Haupt- und Realschule in eine zunächst abschlussoffene Haupt- und Realschule als Schulversuch gemäß § 14 (1)“ zum Schuljahr 2009/2010 genehmigt worden.
Vom damaligen Minister Bantzer ist dieser Bescheid noch unterschrieben worden. Zumindest 10 der beantragten 16 Wochenstunden sind der THS dazu bewilligt worden, um den Mehraufwendungen im veränderten Unterricht und den Arbeiten zur Umsetzung des Schulversuches eine Ausstattung zu geben.
Unterstützend ist das Schulamt beteiligt gewesen, womit dann der Abschnitt mit einem neuen schulpädagogischem Konzept am 6. Juli 2009 aufgenommen wurde.
Ein Schreiben mit klaren Vorstellungen von Eltern für ihre Schulkinder
Volker Gawantka und Christian Scheffczyk als Vater und zweiter Vertreter des Elternbeirats haben für das Gespräch ein Schreiben vorbereitet. Neben ihren mündlichen Ausführungen über den Schulversuch, den sie begrüßen und für ihre Kinder unbedingt positiv bewerten, finden sich darin wesentliche Positionen und Grundlagen beschrieben:
Das seit fast zwei Jahren laufende Projekt trägt reifende Früchte: Es besteht große Akzeptanz bei Schülern, Lehrern und Eltern der THS. Von allen beteiligten Seiten kommen auf breiter Front positive Rückmeldungen über das bereits Erreichte. Kernpunkte des Schulversuchs sind
- feste Klassenverbände mit sichtbarem Schwerpunkt des Lernens auf sozialen Kompetenzen
- differenzierter, den unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder entsprechender Unterricht
- langes gemeinsames Lernen von Schülern aller Leistungsklassen, mindestens bis Klasse 8
- themenorientierter Unterricht mit Blockbildungen, z.B Fach „Naturwissenschaften“
- Rückmeldung über die Leistung der Schüler in differenzierten Lernentwicklungsberichten
Für uns Eltern ist schwer zu verstehen, dass nun geplant ist, den laufenden Schulversuch zugunsten der Umsetzung des neuen Konzeptes der Mittelstufenschule abzubrechen.
Hessisches Kultusministerium kappt Schulversuch nach nur einem Jahr
Es ist bereits viel Positives berichtet worden im Mehrzweckraum der THS an diesem Montagabend. Zwei Mütter sind eigens aus Kirchhain gekommen und bestätigen ihre Zufriedenheit, mit dem, was ihren Kindern an der THS an Lernmöglichkeiten geboten wird. „Meine Tochter muss morgens schon vor sieben Uhr aus dem Haus, um zum Unterrichtsbeginn hier an der THS zu sein. Doch den längeren Schulweg nimmt sie gerne auf sich“ berichtet Frau Dingeldein. Frau Bodenbenner erzählt von ihrer Tochter, die immer Angst vor Klassenarbeiten gehabt habe. „Die hat sie verweigert. Jetzt ist ihr der Druck genommen, sie hat Erfolgserlebnisse und es macht ihr sichtlich Spaß“ erläutert die Mutter.
All das ist massiv bedroht und wird in einem zweiseitigen Brief aus dem Kulturministerium mit Landeswappen im Briefkopf verkündet. Nach nur einem Schuljahr sollte Schluß sein mit dem Schulversuch. Diese Nachricht hat Kopfschütteln und Unverständnis ausgelöst. Bei Eltern und Lehrern und auch bei der Schulleitung. Die Zusatzstunden wurden der THS schon wieder entzogen.
Erfolgreicher Schulversuch wird weitergeführt – noch
An der Schule hat man weitergemacht, sah sich deutlichen Erwartungen bei den Schülern und Eltern ausgesetzt. Die wollten die veränderten und in übereinstimmender Wahrnehmung verbesserten Lerngegebenheiten in jedem Fall behalten. So ist es bis heute möglich gemacht worden, dass es weitergeht. Eine Lehrerin sagt, das es am Anfang nicht leicht gewesen sei und viel mehr Arbeit gemacht habe. „Aber es lohnt sich“ sagt sie und führt weiter aus „die Kinder kommen gerne in die Schule, sie sind motivierter und es gibt weniger Konkurrenz. Das notenfreie Lerne eröffnet deutlich bessere Lernprozesse“, berichtet die junge Schulpädagogin. „Und wegen der fehlenden Noten haben wir die Theodor-Heuss-Schule in Marburg ja überhaupt ausgewählt“ wirft Frau Seidel ein. Sie kommt auch aus Kirchhain.
Nach einem Moment der Stille und Ratlosigkeit erläutert die zweite Lehrerin kurz die anstelle von Noten viel aussagekräftigeren Lernentwicklungsberichte, die es an der THS in den im Schulversuch einbezogenen Klassen gibt. Volker Gawantka fragt, was getan werden kann.
Kappung des Schulversuchs soll nicht hingenommen werden
Der Elternbeirat weiß Eltern, Schüler, Lehrer und Schulleitung auf seiner Seite. Doch nach nur einem Jahr sollte alles wieder vorbei sein. Angesichts der vom Kultusministerium gewollten neuen Mittelstufenschule sei dies nicht mehr notwendig, ist kolportiert worden. Dabei fehlt es nach wie vor an wenigstens etwas präzisen Informationen, was diese Mittelstufenschule bringen und wie sie umgesetzt werden soll.
Im weiteren Gespräch kommt der klare Wille der Eltern für eine Weiterführung zum Ausdruck. „Meine Tochter fühlt sich wohl hier an der Schule. Sie bekommt die Zeit und Möglichkeiten, die sie braucht für ihr Lernen. Sie ist ganz stolz, dass sie jetzt Extraaufgaben in Mathe erledigen soll. Überlegen sie mal, in Mathe“ sagt Gawantka, jetzt ganz Vater.
„Wir können eine weitere Elternversammlung einberufen“ gibt der Vorsitzende des Elternbeirats in die Runde. Es wird überlegt Kontakt zur Friedrich-Ebert-Schule aufzunehmen. Dort gibt es diesen Schulversuch ebenfalls. Dann kommt das Wort vom Vertrauenschutz. Man habe die Kinder doch nicht für einen überhastet abzubrechenden Schulversuch an die THS geschickt. Schüler seien keine Versuchskaninchen, hätten vielmehr Anspruch auf Kontinuität. Wo zudem Schüler und Eltern, Lehrer und Schulleitung sehr zufrieden seien mit den Erfahrungen, in dem nunmehr zweiten Schuljahr.
„Wir Eltern stehen in keinem Dienstverhältnis des Landes und wir werden weitermachen“ sagt der Elterbeiratsvorsitzende. Abschließend werden weitere Maßnahmen im Mehrzweckraum der THS beraten. Wie das Anliegen und Problem wirksam in die Öffentlickeit getragen werden kann – wenn nicht vor, dann eben nach den Osterferien in Hessen.