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Muss bekennen, dass ich einer der Schuldigen bin

Ein Hochschul-Gespräch mit zwei Kommunalpolitikern und Professoren

Marburg 18.5.2011 Die Redaktion des Online-Magazin das Marburger. hat kurz vor der Kommunalwahl im März 2011 ein Gespräch mit zwei Marburger Hochschullehrern geführt. Prof. Heinrich Dingeldein und Prof. Georg Fülberth waren bis 31.3.2011 Stadtverordnete in Marburg, Fülberth war Mitglied der Fraktion Marburger Linke, Dingeldein war Stadtverordneter der FDP.
Vor dem Hintergrund ihres Rückzuges von der Kommunalpolitik war es interessant die Erfahrungen der beiden Universitätsangehörigen abzufragen, dazu ihre Sichtweisen zu Veränderungen und zur Entwicklung der Philipps-Universität. Der vor allen Dingen stadtbezogene Teil des Redaktionsgespräches ist bereits in das Marburger. veröffentlicht worden. Der vor allem  hochschulbezogene Teil des Dreiergespräches mit einem linken Kommunalpolitiker und mit einem liberalen Kommunalpolitiker – beide zugleich Wissenschaftler – wird jetzt veröffentlicht. Die Professoren Heinrich Dingeldein und Georg Fülberth trennen signifikant verschiedene politische Grundanschauungen – zugleich verbindet den Linken und den Liberalen in konkreten Ansichten eine Menge. So plädieren die beide vormaligen Kommunalpolitiker geradezu unisono für die Besinnung auf Stadtentwicklungsplanung für Marburg. Dies motiviert sich auch angesichts der umfangreichen Baumaßnahmen und Veränderungen, die von Baumaßnahmen der Philipps-Universität mit den beiden kommenden Campusanlagen ausgehen werden.
Die Redaktion hat die erfahrenen Hochschullehrer auch zu ihren Ansichten zum Bologna-Prozeß befragt.

Redaktion: Herr Fülberth, Sie bleiben nach Zeiten als Kreistagsabgeordneter und Stadtverordneter jetzt nicht weiter kommunalpolitisch aktiv. Wie war das Verhältnis Universität – Stadt früher?

Fülberth: Was die Kommunalpolitik angeht – wie heute auch: die Beziehungen beschränken sich auf Bebauungspläne und Baugenehmigungen für Vorhaben der Universität. Inhaltlich läuft und lief da nicht viel: die Stadt ruft kein wissenschaftliches Know How von der Universität ab, und diese bietet auch wenig an. Einige Zeit gab es eine enge personelle Verzahnung. In den sechziger Jahren war der Verwaltungsdirektor der Universität, Rudolf Zingel, zugleich Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Stadtverordneten-versammlung. 1971 bis 1979 war er der erste Präsident der Philipps-Universität.

Redaktion: Wie nehmen Sie das Verhältnis Universität – Stadt heute wahr?

Fülberth: Es ist wie früher: da die Universität der größte Betrieb in der Stadt ist, hat sie enormen Einfluss auf deren Infrastruktur und Atmosphäre. Die Uni prägt die Stadt, nicht umgekehrt.

Redaktion: Welche Entwicklung in den Beziehungen Universität – Stadt Marburg halten Sie für notwendig und würden Sie begrüßen?

Fülberth: Die Stadt sollte sich mehr um studentischen Wohnraum bemühen. Da ist vor allem die GeWoBau als städtische Wohnungsbaugesellschaft gefordert.

Redaktion: Was kritisieren Sie am deutlichsten bei der Universität, in Ihrem früheren Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie,  blickend auf die letzten fünf bis 10 Jahre, Herr Fülberth?

Fülberth: Nichts. Wer ausscheidet, sollte dann auch wirklich Abschied nehmen. Was am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie derzeit vorgeht, weiß ich nicht. Wir haben einander nichts vorzuhalten. Hoffentlich geht es da etwas anders zu als an anderen Universitäten, in denen ich manchmal einen Vortrag halte. Da kann es schon einmal passieren, dass man gebeten wird, so zu referieren, dass die Studierenden Stoff für die nächste Klausur sammeln können.

Redaktion: Herr Fülberth, die Philipps-Universität Marburg hat gerade einen abschlägigen Bescheid bekommen, was das weitere Verfahren und die Förderung in der jetzt laufenden Exzellenz-Initiative angeht. Zur gleichen Zeit wird die Marburger Universität baulich großräumig umgestaltet. Was wünschen Sie der Marburger Uni, was halten sie für geboten?

Fülberth: Was die Universität angeht, will ich mich eigentlich wortkarg geben – weil ich es mit der Universität halte, wie ich es auch mit der Kommunalpolitik ab 1. April 2011 halten werde. Vor sieben Jahren, mit Ausscheiden aus dem aktiven Hochschuldienst, habe ich irgendwann der Sekretärin den Zimmerschlüssel auf den Tisch gelegt und bin gegangen. Also nehme ich die Universität nur noch als Nutzer der Bibliotheken und als Marburger Einwohner war. Und von Zeit zu Zeit schenke ich die gesammelten Monate der sozialistischen Tageszeitung junge Welt, die ich abonniert habe, der Bibliothek des Instituts für Politikwissenschaft, damit die auch einmal etwas Vernünftiges zu lesen haben.

Verbindung zur Universität besteht auch dadurch, dass ich von Zeit zu Zeit noch prüfen muss, weil offensichtlich die neuen Kolleginnen und  Kollegen durch die zusätzlichen Klausuren und Beschäftigungen, die man ihnen aufgehalst hat, so überlastet sind, dass man auch noch mal einen Rentner braucht. Die Vorgespräche mit den Kandidatinnen und Kandidaten führe ich im „Café Am Grün“. Das ist beruhigender und zugleich anregender als in den Karnickelställen in den Institutshochhäusern neben der Stadtautobahn.

Insofern habe ich ein sehr distanziertes Verhältnis zu den Prozessen in der Universität, kenne die nicht, habe die Gnade der frühen Geburt, dass ich diese Umgestaltungen in Bachelor und Master nicht mehr mitmachen musste.

Redaktion: Herr Dingeldein, wie schätzen Sie die Exzellenz-Initiative ein? Stichwort Ausbau der Universität. Sie sind selbst in Ihrem Institut, in Ihrer Fachdisziplin positiv davon betroffen. Der Deutsche Sprachatlas erhält einen Neubau und überhaupt dann erst einmal eine bauliche Zusammenfassung. Wie schätzen Sie das ein für die Alma Mater Philippina?

Dingeldein: Ich muss zunächst bekennen, dass ich einer der Schuldigen bin an dem, was Herr Fülberth gerade geschildert hat. Unschuldig bin ich mitschuldig gewordenen, dass diese neuen Strukturen in Marburg im Lehrbereich gelten. Ich war damals Vizepräsident für Lehre und Studium, als die neuen Studiengänge eingeführt werden mussten – mit erheblichen Pressionen durch ministerielle Vorgaben. Ich halte mir nur zugute, dass es mir und anderen über politischen Einfluss wenigstens gelungen ist, dafür zu sorgen, dass die Lehramtsstudiengänge noch auf  längere Zeit und einheitlich angelegt worden sind und nicht in getrennte Bachelor- und Master-Studiengänge zerhauen wurden.

Redaktion: Solche Bestrebungen bei der Lehrerausbildung hat es auch gegeben?

Dingeldein: Selbstverständlich, und in anderen Bundesländern wie in Mecklenburg-Vorpommern, ist das ja der Fall. Ich weiß noch, wie wir vom Kultusministerium zu einer Tagung nach  Königsstein eingeladen worden waren,  Da wurde auf uns eingeredet, die neuen Strukturen in der Lehrerausbildung umzusetzen. Ich habe damals bei anderer Gelegenheit zur Wissenschaftsministerin Ruth Wagner einfach gesagt: „Das findet in Marburg nicht statt, weil es einfach dumm ist.“  Sie hat es Gott sei Dank verstanden. Sie hat dann im Kultusministerium durchsetzen können, dass die Pläne nicht weiter verfolgt worden sind.

Was nun die Exzellenz angeht: In sprachwissenschaftlich-logischer Sicht ist nur das von Exzellenz, was zum Schluss exzellent ist. Die Exzellenzinitiative gibt aber sozusagen einen Kredit auf  vermutete künftige Exzellenz. Sie versucht aus äußeren Umständen, die geeignet sein können, am Ende Exzellenz zu produzieren, Exzellenz abzuleiten.

Nun ist aber der Wissenschaft eigen, dass häufig am Ende gerade das als exzellent im Sinne neuer Erkenntnis bewertet wird, was am Anfang nicht danach ausgesehen hat. Und frühe Hypothesen erweisen sich oft genug als falsch. Die Freiheit der Wissenschaft ist dazu da, das zunächst nicht Bedachte sichtbar zu machen, also vorher nicht Gesehenes zu erkennen, es zu bedenken, zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen.

Redaktion: Klingt in ihrer Aussage zur Exzellenz mehr  als Distanz, nicht auch Kritik an Herr Fülberth?

Fülberth: Ich war etwas erstaunt, wie insbesondere die Geisteswissenschaften, die doch immer stolz darauf waren, dass sie sich autonom verhalten, dass sie nicht unmittelbar zweckgerichtet forschen und lehren – wie die dann doch in einem Dominoeffekt umgefallen sind, als man von außen mit Evaluierungsverfahren auf sie zugekommen ist. Offensichtlich fürchteten die, dass sie kein Geld mehr kriegen, wenn sie das nicht mitmachen. Sie vollzogen das, wogegen 40 Jahre lang gekämpft worden ist, plötzlich in vorauseilendem Gehorsam und missachteten die Mahnung von Erich Kästner: Was auch geschieht,/Nie dürft ihr so weit sinken,/Von dem Kakao, durch den man Euch zieht,/Auch noch zu trinken.

Kurzstudiengänge und solche Dinge, die man zu Recht immer für Horror gehalten hat, sind dann in einem kurzen Prozess durchgesetzt worden. Insofern ist das für mich eine neue Welt auch einschließlich dieser Exzellenz-Initiativen.

Redaktion: Was für Tücken sind denn  mit dieser Art von Exzellenz-Förderung verbunden?

Dingeldein: Als ich kürzlich beim DAAD in Bonn war, traf ich dort einen Kollegen aus Freiburg.  Der sagte: „Als in Freiburg über uns  die ‚Exzellenz’ hereingebrochen ist, wussten wir zunächst gar nicht wohin mit dem vielen Geld. Wir hatten plötzlich so viele Mittel, dass wir Stellen geschaffen haben, ohne eigentlich zu wissen, wofür diese gut sind. Wir haben jedes Buch dreimal angeschafft, nur um die Gelder auszugeben.“  Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite stehen die Universitäten, die durch das Raster fallen. Es muss erlaubt sein, ganz vorsichtig die Frage stellen, wie objektiv nützlich die Zuteilungen der Gelder sind und wie viel politisches Proporzdenken jenseits wissenschaftlicher Kriterien dahinter steckt.

Einerseits wird ein Überfluss gewährt. Andererseits gibt es Universitäten, die jedem Groschen hinterher rennen müssen.

Redaktion: Was wären oder sind denn ihre Prioriäten?

Fülberth: Die meisten Menschen, die an der Universität tätig sind, sind doch die Studierenden. Das wird über all dem Exzellenz-Gedöns vielleicht manchmal vergessen. Die Zahl der Studierenden wächst ständig. Die Universität sollte in erster Linie ein Dienstleistungsbetrieb für die Studierenden sein, eine Studierenden-Universität.  Insofern stört die zweimalige Ablehnung der Beteiligung am Exzellenz-Prozess vielleicht gar nicht so sehr. Die Exzellenz-Pleiten einerseits und andererseits der großzügige räumliche Ausbau einer Universität für die Studierenden: das muss kein Widerspruch sein. Wenn man in Marburg früher Geisteswissenschaften studiert hat, dann hat man auf Staatsexamen studiert. Das ist nun ein Randphänomen. Der jetzige Zustand ist für mich eine fremde Welt. Ich sage jetzt nicht, dass das eine schlechtere Welt sei. Allerdings – als eher gelangweilter Beobachter von außen verstehe ich da Vieles nicht mehr. Das muss man ja auch nicht, wenn man sich längst für Anderes interessiert.

Redaktion: Wie sieht es beim Deutschen Sprachatlas aus?

Dingeldein: Dass es den vor zehn Jahren im Sprachatlas berufenen Prof. Schmidt und Prof. Herrgen, gelungen ist, das Institut wieder zu dem zu machen, was es als ältestes empirisch arbeitendes sprachwissenschaftliches Institut der Welt lange Zeit war, ist eine Sache, die gerade nicht über die Exzellenzinitiative gelaufen ist: Man konnte die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz als Partner gewinnen.

So entwickelte sich die nun tatsächlich gegebene Exzellenz, von der Basis her, nicht primär aus einer politischen Entscheidung heraus, wer und was exzellent zu sein hat und wo man ein Schild mit dem Wort „Exzellenz“ an die Tür schrauben darf. Das ist der Unterschied.

Redaktion: Es fällt auf,  dass sie  beide bei sehr unterschiedlicher politischer Beheimatung, hier ein Liberaler, dort ein Linker, ein Kommunist,  in dieser Fragen weit übereinstimmen.

Dingeldein: Ich komme mit Herrn Fülberth freundschaftlich kollegial so gut aus, wie meine ebenfalls liberale Vor-Vorgängerin Professorin Luise Berthold mit dem dezidiert linken Kollegen Abendroth menschlich auch immer gut ausgekommen ist – trotz aller politisch-inhaltlichen Differenzen.

Fülberth: Ja.

Redaktion: Grundpositionen trennen doch nun einmal, sind geradezu dazu da verschiedene Schulen und Lager zu kennzeichnen und möglich zu machen. Wie geht das bei Ihnen zusammen?

Dingeldein: Der eine ist liberal, der andere ist links. Hätte Abendroth eine Chance gehabt in der Exzellenzinitiative? Wahrscheinlich nein. Trotzdem war er trotz seiner mir da und dort befremdlichen Standpunkte ohne Zweifel exzellent, wenn man betrachtet, welche Wirksamkeit er hat entfalten können – auch durch den von ihm provozierten Widerspruch.  Das muss man sich einfach klar machen: Wissenschaft läuft nicht so, dass irgendeine Instanz, die auch noch durch staatliche Stellen mitbestimmt wird, entscheidet, was exzellent ist oder zu sein hat. Der Staat muss dafür sorgen, dass die Freiheit dazu gegeben ist, dass sich Exzellenz überhaupt entwickeln kann.  Das aber nicht, indem man die Einen beschränkt und nur Erwählten die Mittel zufließen lasst.

Fülberth: In die falsche Richtung. Dann haben wir beide gestern den FAZ-Artikel gelesen.

Dingeldein: Was für einen Artikel? Ich bin gestern nicht zum Lesen gekommen.

Fülberth: Ich habe gestern darin gelesen: Da hat einer aus Zürich über das Elend der Exzellenzinitiative geschrieben. Ich kaufe aber keine bürgerlichen Zeitungen.

Dingeldein: Das ist ein Fehler.

Fülberth: Ooch, ich schnorre sie. Ich steige auf meinen Eisenbahnfahrten in die erste Klasse ein. Da liegen immer Exemlare der Frankfurter Allgemeinen, der Süddeutschen Zeitung und der Welt kompakt herum, von Passagieren auf ihren Plätzen liegen gelassen. Die sammele ich ein, und dann gehe ich damit in die zweite Klasse, wo ich hingehöre.
Oder ich setze mich ins Stadtcafé oder den Lesesaal der Universitätsbibliothek, da liegen diese Blätter auch. So habe ich gestern gelesen, dass einer aus Zürich über das Elend der Exzellenzinitiative geschrieben hart.

Dingeldein: Da muss ich nachschauen.

Fülberth: Das, was Sie eben gesagt haben, sagt einer aus der Schweiz.

Dingeldein: Da müsste man nur noch das Geld  haben, was die Schweizer normalerweise haben.

Redaktion: Verstehe ich Sie richtig als aktiven Hochschullehrer, als hochschulpolitisch Aktiven, der sich in der Hochschulleitung mit engagiert hat, dass sie die Substanz der Philipps-Universität positiv bewerten, soweit Sie das überblicken, schließlich ist die Philipps-Universität mit ihren zahlreichen Fachbereichen sehr weit gestreut. Es gibt offenbar prosperierende Naturwissenschaften, so etwa die Chemie. Deren Neubau auf den Lahnbergen, im Moment gerade Riesenbaustelle, kostet über 100 Millionen Euro. Sehen Sie in der Alma Mater Philipppina, also der überkommenen Universität die Substanz für positive Entwicklung?

Dingeldein: Die ist immer gegeben. Wo kluge Menschen zusammen sind, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen und lange genug nachdenken und fleißig arbeiten. Die werden zu einem Ergebnis kommen. Das ist die Voraussetzung. Es ist immer und in erster Linie eine Sache der menschlichen Ressourcen. Wenn aber die Strukturen so sind, dass es den Leuten keinen Spaß mehr macht morgens aufzustehen und in das Institut zu fahren, weil sie entweder mit zu vielen Studenten oder mit zu vielen Prüfungen oder mit Antragsformularen und mit Papieren zu Diesem und Jenem zu tun haben, dann ist die Chance, dass sich Exzellenz entwickelt, gering.

Mehr als ein Drittel der Arbeitszeit  braucht man inzwischen für formalen Kram. Wir müssen jede Klausur doppelt begutachten und das geht dann beim Bachelor-Studiengang Jahr für Jahr so. Man sitzt fast nur noch da und erfüllt formale Pflichten. Was man hingegen nicht kann, ist, sich in aller Ruhe mit Studenten einmal im kleinen Kreis über wissenschaftliche Fragen zu unterhalten.

Redaktion: Das war früher anders. Wie ist es denn bei Ihnen gelaufen?

Dingeldein: Das war die große Chance in meinem Leben.  ich wusste, ich bin 8 bis 10 Semester an der Universität, bis ich das Examen mache. Ich konnte mich irgendwann entscheiden, eine Stelle als studentische Hilfskraft anzunehmen. Der Professor, der mich eingestellt hat, konnte sagen, der scheint mir dafür geeignet zu sein, dass er einmal kennenlernt, wie im Inneren der Wissenschaft gearbeitet wird. Nicht nur fotokopieren und Bücher irgendwo holen. Das war meine Chance.

Wenn Sie heute einen Bachelor-Studenten fragen, ob er Lust hätte, Hilfskraft zu werden, dann kommt in der Regel die Antwort:  „Nein, ich habe keine Zeit, zu viele Lehrverpflichtungen.“  Wenn Sie dann jemanden nehmen wollen, der einen Master-Studiengang  absolviert, dann finden sie den aus ähnlichen Gründen auch nicht: Weil er oder sie z.B. erst nach Marburg gekommen ist, um diesen Studienabschnitt hier zu absolvieren. Es gab keine Zeit näher bekannt zu werden um festzustellen, ob eine Eignung gegeben ist.  Findet man doch jemanden und fragt, wie seht es denn aus? Haben sie Lust wissenschaftliche Hilfskraft zu werden, kommt die gleiche Antwort: „Nein, ich habe keine Zeit.“ Warum? Weil so viele Formalia erfüllt werden müssen,  dass das, was das Eigentliche im Studium sein sollte, nämlich sich an der Wissenschaft selber zu bilden, nicht mehr stattfinden kann.

Fülberth: Da kann ich nur sagen, und das ohne Häme, Herr Dingeldein, ich bemitleide Sie zutiefst, dafür, dass Sie da noch tätig sein müssen. Ich bekomme das am Rande mit. Ich höre, dass die neu eingestellten Professorinnen und Professoren wirklich sehr, sehr viel mehr zu tun haben als wir damals.

Dingeldein: Ja, das ist so.

Fülberth: Und dass sie auch noch schlechter verdienen, als wir verdient haben. Das erfüllt mich nicht mit Schadenfreude, sondern mit Freude, dass es mich nicht erwischt hat.

Redaktion: Herr Fülberth, Sie werden bald mehr Zeit haben. Wahrscheinlich auch nicht zu viel, wenn in einigen Wochen Ihre kommunalpolitische Arbeit zu Ende gegangen sein wird. Was beschäftigt Sie als Autor?

Fülberth: Na ja, ich schreibe ja nun für alle möglichen linksradikalen Blätter. Das werde ich weiter tun. Ich werde auch das eine oder andere Taschenbuch produzieren.  Das, was aus aktuellem Anlass entsteht, das weiß man ein paar Jahre vorher noch nicht. Das ergibt sich so. Das ist aber nicht Wissenschaft. Das ist Publizistik. Das habe ich während der Zeit als Stadtverordneter auch gemacht. Im Übrigen wird sich so viel nicht ändern. Es wird sich nur die zeitliche Dimension ändern. Seit 12 Jahren sitze ich mit zwei Kollegen an einem Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA): Briefe von Friedrich Engels und an Friedrich Engels vom 1. April 1888 bis zum 30. September 1889. Das treiben wir schon seit dem 1. Januar 2000 und das habe ich auch während der gesamten Zeit, als ich im Kreistag und in der Stadtverordnetenversammlung war, gemacht.

Damals eben nicht mit so viel Zeit. Jetzt werde ich es mit mehr Zeit betreiben bis an mein kühles Grab. Diese Großeditionen hören ja nie auf. Editoren sind Leute, die eigentlich gar nicht wollen, dass ihr Buch erscheint. Denn sie wissen, das wird ohnehin nie so fertig, dass man damit zufrieden ist. Man muss uns – meinen Kollegen Gerd Callesen, Jürgen Scheele und mich – dann irgendwann wahrscheinlich gewaltsam diesen Band der MEGA entreißen, damit wir ihn überhaupt hergeben. Das kann noch ein paar Jahre dauern oder noch ein paar Jahrzehnte. Wenn dann eines Tages der Band III/29 der Marx-Engels-Gesamtausgabe gedruckt vorliegen sollte, dann weiß ich gar nicht mehr, was ich auf dieser Welt noch soll.

Redaktion: Herr Dingeldein, Sie haben gerade den abschließenden Band 4 zum Hessischen Sprachatlas (Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens) vorgelegt. Was gibt es bei Ihnen zu forschen, schreiben, wissenschaftlich zu publizieren?

Dingeldein: Also jetzt geht es weiter mit dem Hessen-Nassauischen Wörterbuch, das ich die ganze Zeit nebenher schon mitbearbeitet habe. Dort sind drei Bände fast fertig. Der vierte und fünfte Band müssen noch kommen. Das werde ich alles in meiner Dienstzeit wohl nicht mehr ganz schaffen können.

Aber ich bin gerade dabei diese Publikationen in das Internet zu bringen. Früher gab es das Hessen-Nassauische Wörterbuch in jeder Volksschule in Hessen. Dann sind die Volksschulen aufgelöst worden in Mittelpunktschulen. Heute ist das zu einem rein wissenschaftlichen Nachschlagewerk geworden, und ich will, dass es für möglichst viele erreichbar ist. Daher soll es in das Internet gestellt werden. Das sind jetzt meine Hauptaufgaben in Marburg.

Redaktion: Was machen sie außerdem in ihrem Berufsfeld ?

Dingeldein: Ich habe nebenher noch ein großes Hobby, eigentlich mehr als ein Hobby. Seit Anfang der neunziger Jahre bin ich in Hermannstadt in Rumänien an der Universität Honorarprofessor und seit 2006, ernannt vom rumänischen Wissenschaftsminister, als Conducator de doctorat,  das heißt als Doktorandenbetreuer tätig. Das ist in Rumänien ein ganz eigenes Ding. Ich bin einer von nur drei Ausländern in Rumänien, die das überhaupt dürfen, und ich habe dort auch schon junge Leute promoviert. Es macht mir sehr viel Spaß zu sehen, wie sich dort eine Universität wandelt von einem sehr verschulten System hin zu einem freieren System.

Wir in Deutschland gehen gleichzeitig auf dem Weg in umgekehrter Richtung.  Ich hoffe nun nicht, dass wir von  beiden Enden kommend in der Mitte stehen bleiben, sondern dass wir ernsthaft versuchen, etwas gescheites Drittes  herauszubilden, in welchem ernsthaftes Lernen mit wissenschaftlichem Forschungsinteresse in Einklang gebracht werden kann.

Prof. Heinrich Dingeldein und Prof. Georg Fülberth vor dem Rathaus Marburg, das beide als Stadtverordnete im März 2011 hinter sich gelassen haben. (Fotografien Hartwig Bambey)

Zum ersten Teil des Gespräches über Fragen der Stadt(politik) Marburg.

 

 

 

 

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