Gerichtesterben getragen von perfider Strategie
Marburg 17.8.2011 (red/yb) Dass am Mittwoch, 10.8.2011, in der Anhörung im Rechtsausschuss des Hessischen Landtags eine überwältigende Mehrheit der geladenen Sachverständigen mit triftigen Argumenten, Verweis auf Erfahrungen aus der Vergangenheit und sogar Berechnungen die vermeintlichen Sparziele des Justizministeriums widerlegen konnte, ist dokumentiert und wurde von der Redaktion berichterstattet.
Dass dann kaum zwei Tage später, wegen des „Verfehlens“ der Sparziele bei der geplanten Schließung eben jener 10 Gerichte deutlich weitergehende Pläne zur Einsparung mittels Streichung von Richter- und weiteren Personalstellen präsentiert wurden, könnte sogar und somit als folgerichtig erscheinen. Delikat wird es, wenn mit Argumenten der Gegner von Gerichtsschließungen weiterer Abbau in der Justiz scheinbar „begründet“ werden können. Dass dabei gänzlich verschiedene Motive und Zielstellungen durcheinander gehen, sogar hemmungslos vermischt werden, gibt Hinweise. Zur Veranschaulichung wird zunächst die Pressemitteilung des Marburger Aktionsbündnisses gegen das Hessische Gerichtesterben über die Anhörung veröffentlicht:
Presseerklärung
Sehr geehrte Damen und Herren von Presse, Rundfunk und Fernsehen,
bereits im Vorfeld der Anhörung habe ich mehrfach und zeitaufwändigst (!) Kontakt zum HR Fernsehen (Studio Wiesbaden Pietzonka und Bartels, die damals das Interview mit Gisela Falk und mir gemacht hatten) und HR Rundfunk (Julia Schneider, MR und Jochen Schmidt) sowie zur Oberhessischen Presse (Chefredakteur Linne, Till Conrad, letzterer wollte selbst hinkommen, war aber nicht da) aufgenommen und diesen alle, aber auch wirklich ALLE Infos zur ÖFFENTLICHEN Anhörung übersandt, inklusive Liste der Anzuhörenden, Reihenfolge der Anhörung und Links zu den auf der Homepage des Rechts- und Integrationsausschusses vorbildlich und vollständig veröffentlichten Statements; wer sich informieren wollte, der konnte es auf Grund meiner o.g.Hinweise, was sicherlich bei der Komplexität der Materie eine Sisyphusarbeit ist, auch und vor allem angesichts der immer noch wiederholten Vernebelungstaktik der Koalition.
Wer am 10.8.dabei war ( und so was muss man mal live erleben !), der konnte und mußte – wenn er wach und aufmerksam war – folgendes Ergebnis mitnehmen, das sich weder in den schon lange vor Ende der Anhörung (an der der rechtspolische Sprecher der CDU Honka etwa in der Zeit von 11.30 h bis ca. 16 h gar nicht im Saal war -Zeitangabe geschätzt- was mich persönlich sehr verärgert hat, ich habe drauf geachtet) von der CDU herausgegebenen Presseerklärung und Statements, aber auch in einigen Medienmeldungen, wie der heutigen OP, erstaunlicher weise nicht findet:
1. Die behaupteten Einsparungen sind schlicht nach wie vor nicht nachgewiesen, nicht einmal annähernd, auch nicht durch die zwei einzigen pro Ministerium sprechenden Statements der Präsidenten des OLGs und Landesarbeitsgerichtes, zwei wohlgemerkt von fast 50 Statements !
Vielmehr wird immer deutlicher: Es wird nichts gespart ! Es wird sogar mit aller Wahrscheinlichkeit teuerer, zum Beispiel das neue Arbeitsgericht Mittelhessen in Gießen. Das Justizministerium konnte nach wie vor nicht nachvollziehbar belegen, dass durch die Schließungen der GESAMTHAUSHALT des Landes Hessen wirklich entlastet wird, was besonders unverständlich und unverfroren ist, nachdem alle nun anstehenden Fragen bereits bei der ersten (genau genommen die dritte) Schließungswelle 2004/05 aufgetaucht und bis heute unbeanwortet geblieben sind. Alleine die unsäglichen Fehler des Hessischen Immobilien Managements (HI) bei der Einschätzung der Verkaufserlöse und den tatsächlichen Erlösen sind ein Hammer ( Nichtverkauf des Amtsgericht Homberg a.d. Efze bis heute, Verkauf für 1 Euro bei dem Amtsgericht Butzbach mit 120.000 Euro Wasserschaden)!
Die immer wieder vorgebrachten und beanstandeten Kostenrechnungen des HI für seine „Leistungen“ sind es ebenso (kein Wort dazu von der Koalition – wie überhaupt von ihnen KEIN Wort zu den Kritiken im einzelnen kommt – sehr schöne Ohrfeige des Direktors von Nidda für die Sparvorschläge Hahns, die im juristischen Sinne „unsubstantiiert, also unschlüssig“ sind, deshalb auch keine „Erheblichkeitseinwände“ erforderlich und auch – eben mangels Substantiierung – gar nicht möglich sind! (Eine feine juristische, klassische Logik der sog. „Relationstechnik“, die jeder Referendar schon in der ersten Ausbildungstation beigebracht ; ich war selbst über 25 in der Referendarausbildung tätig.)
Die Kritik der CDU/FDP, es gebe keine alternativen Sparvorschläge stellt den Sachverhalt doch auf den Kopf. Ausserdem ist sie schlicht falsch: vergl. Schwamb und Dr. Goedel Statements sowie viele Vorschläge einzelner Gerichte bei der Anhörung; wenn man wie Mdl Honka, CDU, gar nicht bei der Anhörung dabei bleibt/und/oder ihm niemand davon berichtet, dann kann man so was einfach nicht akzeptieren!
Die kriegen das Sparen nach den Erfahrungen aus 2004/05 wieder nicht hin und erwarten dann bessere Sparvorschläge der anderen!? Welche Logik, welch unverfrorene Argumentation!
2. Die vorsichtigen Erklärungen des Präsidenten Prof. Dr. Schäfer von Landesrechnungshof sind doch der Hammer: mit den Rechnungshof-Empfehlungen waren nur Gerichte mit drei und weniger Richter bei gleichzeitiger Berücksichtigung der strukturell-örtlichen Lage und Entfernungen der betroffenen Gerichte gemeint; die Zumutbarkeitsgrenze liegt bei 20 km! Und was die Politik daraus macht, das ist Sache der Politik, nicht des Rechnungshofes, dem zunächst mal Kritik an der politischen Entscheidung verboten ist. Eine neue Überprüfung soll Ende 2011 vorliegen. Anmerkung: dann ist alles schon vollzogen.
3. Es gab eine einheitliche Kritik aller – bis auf zwei Statements, die dazu aber nichts sagten – am Verfahren von Justizministerium und Parlamentsmehrheit. So werden die von Bundespräsident Wulf am 30.6.2011 artikulierten Sorgen und Zweifel der Bürger an Ansehen und Akzeptanz der Parlamente nicht beseitigt, sondern bestärkt. Und dabei soll man nicht „Wutbürger“ werden?
4. Der nächste Hammer: Verfassungsrechtliche Bedenken, Vergleich und Hinweis des Arbeitsgerichtsdirektor Rühle aus Marburg: „macht es Euch nicht zu leicht damit !“, siehe Klinikumszusammenlegungstricks vor 5 Jahren – jetzt durch Bundesverfassungsgerichtsurteil (mit Bestätigung des Urteils vom Arbeitsgericht Marburg aus erster Instanz) ein Desaster für die CDU-FDP-Regierung und Ohrfeige für Koch und seine Nachfolger. Hier könnte für die Koalition das nächste VerfassungsRs/Gerichtsproblem kommen. Rühle war als letzter dran mit knallharter Kritik – die beste Darstellung der Unsinnigkeit des Gesetzesentwurfes.
5. Statements von Marburger Vertretern, allen voran Werner Schwamb (Neue Richtervereinigung), Gisela Falk (Vorsitzende des Marburger Anwaltvereins), Rechtsanwalt Padva (Vertreter der Förderer des Aktionsbündnisse), Bürgermeister Dr. Franz Kahle, Frau Dr.Goedel, Vorsitzende des Hessischen Richterbundes (frühere Leiterin der Staatsanwaltschaft Marburg) waren ebenfalls mit messerscharfen Ausführungen überzeugend.
6. Einige Bürgermeister und ein Rechtspfleger von Bad Arolsen sowie die anwesenden Amtsgerichtsdirektoren von Nidda und Rotenburg a.d.Fulda zerpflückten detailkenntnisreich, die Sparargumente aus dem Justizministerium überzeugend.
7. Wie, dass und ob man seitens der Koalition an so fundierten übereinstimmenden Kritiken vorbeigehen, diese ignorieren kann, ist unverständlich.
Marburg, den 11. 10 2011 H. Kleinhenz, Ri.a.AG i.R. Pressesprecher des Marburger Aktionsbündnisses gegen das Hessisches Gerichtesterben und für den Erhalt des Arbeitsgerichtes Marburg.
Berichterstattung als Dokument und als Beleg
Es gibt Berichterstattung seitens des Hessischen Rundfunks (HR) über die Anhörung am 10. August. Sie ist datiert mit 10.8.2011. Darüber hat sich am Donnerstag, 11. August, 2011 ein Rechtsanwalt gewundert. Vor allem darüber, „dass der HR zu den angeblich geplanten Einsparungen tatsächlich von 23 Millionen € ausgeht“. Verwunderung über eine Einsparsumme von 23 Millionen ist mithin belegbar.
So könnte es lohnenswert sein, den entsprechenden Bericht nachzulesen.
Die Redaktion hat den HR-Bericht fotografisch dokumentiert und veröffentlicht ihn nebenstehend in anderer Anordnung. Per Mausklick lässt sich die Grafik vergrößern. Damit können sich Leser selbst ein Bild machen, zu welch erstaunlichen Ergebnissen resp. Betrachtungen der oder die HR-Schreiber kommen. Zudem ist der Kontrast zwischen der Pressemitteilung vom 11.8.2011 und diesem Bericht des HR vom 10.8.2011 bemerkenswert. So könnte eine (rhetorische) Frage lauten, ob denn die Verfasser der Pressemitteilung und des HR-Berichts wirklich auf ein und derselben Veranstaltung gewesen sind.
Was war die Anhörung im Rechtsausschuss am 10. August ?
An dieser Stelle soll die Frage aufgeworfen werden, wer zum Zeitraum der Anhörung am 10.8.2011 bereits davon wusste, dass weitergehende Maßnahmen längst vorbereitet waren und am 12. August Personalräten und Richerräten vorgestellt werden würden? Die Redaktion wird versuchen dazu den justizpolitischen Sprecher der FDP zu befragen. MdL Müller hat der Redaktion ein Interview am Ende der Anhörung am 10. August immerhin zugesagt. Die Redaktion wird sich auch bemühen dazu Auskunft resp. Aussage von Ministerialdirigent Nimmerfroh zu erhalten. Ob freilich dieser hohe Beamte des Justizministeriums dazu Aussage(n) machen will, ob er Aussagen dazu machen könnte, ob dies dienstrechtlich zulässig wäre oder nicht, entzieht sich der Kenntnis der Redaktion. Einen Versuch sollte es Wert sein.
Wie die Redaktion vor Ort in Wiesbaden in Gesprächen mit Anwesenden selbst erfahren hat, waren manche Teilnehmende von der Authentizität der Anhörung als Ganzes keinesfalls überzeugt. So sagte ein Landtagsmitglied (MdL) wörtlich: „Die ziehen das durch.“
Ein Besucher und aufmerksamer Zuhörer meinte während der Anhörung, dass die in der Hessischen Landesverfassung neu verankerte ‚Schuldenbremse‘ als Konstrukt herhalten müsse, um die Politik des Justizministers zu rechtfertigen und durchzusetzen.
Dafür findet sich in der heutigen Oberhessischen Presse (OP vom 17.8.2011) sogar ein Beweis, schwarz auf weiß gedruckt. In einem Leserbrief bemüht sich Dr. Hans Liedel, Pressesprecher des Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa, mit Verweis auf das Mehrheitsvotum in der „Volksabstimmung für eine Schuldenbremse“ darzulegen, „dass die überwiegende Mehrheit der Marburger Bürger diese Entscheidung billigt.“
Anmerkung der Redaktion:
Der Pressesprecher ist offenbar ein engagierter Vertreter seiner Profession, lässt es nicht einmal aus als Leserbriefschreiber in Erscheinung zu treten. Das freilich macht seine Argumentation weder juristisch noch rein logisch plausibler. Er würde sich sicherlich einen Hinweis auf die ermittelten Mehrheitsverhältnisse im Hessischen Landtag zum Zeitpunkt der letzten Landtagswahl und zum jetzigen Zeitpunkt, insbesondere die FDP betreffend, als nicht sachdienlich zurückweisen. Das habe doch mit Logik nichts zu tun und im Übrigen sei das Parlament für eine ganze Legislaturperiode gewählt. Mit diesem Bezug auf die Landesverfassung würde der dann allerdings zu Recht und zutreffend argumentieren können.
Bei außenstehenden, einigermaßen informierten und aufmerksamen Beobachtern konnte, ja musste am 10.8.2011 in der 5. Etage des Landtagsgebäudes der Verdacht aufkommen, dass dort „mit gezinkten Karten gespielt wurde“ um diesen – eines demokratisch gewählten Parlaments unwürdigen – Vergleich zu bemühen. (20110817-08-52-CET)