Postsowjetisches Festival NordOst > WEST in der Waggonhalle
Marburg 24.1.2012 (pm/red) Die sowjetische Fahne auf dem Dach des Kremls wurde am 25.12. 1991 um 19.32 Uhr Ortszeit eingeholt, an ihrer Stelle wurde die russische Trikolore aufgezogen. Am 31.12. 1991 war der Tag des offiziellen Endes der Sowjetunion. Danach sah die Welt neue oder lang vergessene Nationalfahnen aufsteigen. Die Sowjetunion hatte nach 70 Jahren aufgehört zu existieren und ein politisches Experiment war in wesentlichen Punkten gescheitert. Seitdem sind 20 Jahre vergangen und die Folgen beschäftigen die Welt weiter. Mit einer Auswahl postsowjetischer Phänomene als Minifestival begeht playground_EAST das Ende der Sowjetunion und vereint traurige und fröhliche, politische und kulturelle, musikalische und literarische, theatralische und kulinarische Angebote. Nicht jeder, der Russisch spricht, ist wirklich Russe, viele Wege führen von Ost nach West aber Wodka und Salzgurken gehören unbedingt zusammen.
Nordost – Premiere am 26. Januar
Drei Frauen, die einander nicht kennen. Ihre Wege kreuzen sich im Oktober 2002 im Moskauer Theater an der Dubrovka in einer Vorstellung des russischen Musicalhits Nord-Ost. Sie sind Schachfi guren in einem Spiel, das sie sich nicht ausgesucht haben und dessen Ausgang sie nicht bestimmen können: Eine russische Buchhalterin, die lange für die Theaterkarten gespart hat und sich nun samt Ehemann und Tochter als Geisel im Zuschauerraum wiederfindet; Eine lettische Ärztin, die mit ihrer Mutter und Tochter im Theater säße, wenn sie nicht im letzten Moment einen Nachtdienst für einen Kollegen übernommen hätte. Eine tschetschenische Laborantin mit einem Sturmgewehr in Händen und einem Sprengstoffgürtel um den Bauch, die bereit ist für eine Sache sterben, deren Gerechtigkeit ihr immer zweifelhafter vorkommt.
Nach dem ersten Akt des Musicals nimmt ein Drama seinen Lauf, das Tschechows Ausspruch bestätigt: „Keine Literatur kann in puncto Zynismus das wirkliche Leben übertreffen.“
Für Nordost erhielt Torsten Buchsteiner 2005 den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis und den Jurypreis der 1. St. Galler Autorentage. Nordost wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und in vielen europäischen Ländern aufgeführt.
Mit Inga Berlin, Katharina Bohl, Ricarda Schmidt | Regie: Stefan Blix, Linda Udre
Premiere Donnerstag 26. Januar 20 Uhr, Waggonhalle
Weitere Vorstellungen: Fr 27./Sa 28./So 29. Januar, 20 Uhr, Waggonhalle.
Lesung und Diskussion mit Maynat Kurbanova
Maynat Kurbanova wurde 1974 in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny geboren. Die Kulturjournalistin war mit 24 Jahren Chefredakteurin des Tschetschenischen Fernsehens und freie Mitarbeiterin verschiedener russischer und tschetschenischer Zeitungen. Als 1999 der zweite Tschetschenienkrieg ausbrach wurde sie Kriegsberichterstatterin unter anderem für die Novaja Gazeta, zu deren Redaktion auch die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkovskaja gehörte. Sie schrieb über die Gräueltaten russischer Militärs an der Zivilbevölkerung. Durch ihre Zusammenarbeit mit einer französischen Nachrichtenagentur wurden ihre Artikel auch in der FAZ und der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. 2003 wurde sie für den Andrej-Sacharov-Preis nominiert. Nach Morddrohungen gegen sie und ihre kleine Tochter ist sie 2004 nach Deutschland ins Exil zu gegangen. Sie war drei Jahre lang Stipendiatin des Writers-in-Exile-Programms des P.E.N. Zentrums Deutschland. Inzwischen lebt sie in Wien als Schriftstellerin und Journalistin.
Maynat Kurbanova liest aus ihrem Text Geschichte einer Reportage über ihre Begegnung mit einer späteren Selbstmordattentäterin. Danach steht sie für Fragen zum politischen Kontext des Stückes und zur Situation in Tschetschenien damals und heute zur Verfügung.
Freitag 27. Januar 22 Uhr, (im Anschluss an die Nordost-Vorstellung) in der Waggonhalle
Matinée Lesung Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Alina Bronsky wurde 1978 in Sverdlovsk im Ural geboren. Mit dreizehn Jahren kam sie nach Deutschland und wuchs in Marburg und Darmstadt auf. Nach einem abgebrochenen Medizinstudium arbeitete sie als Werbetexterin und Journalistin. 2008 erschien ihr erster Roman Scherbenpark bei Kiepenheuer & Witsch in Köln. Scherbenpark wurde ein Bestseller, in mehrere Sprachen übersetzt und auch von der Kritik sehr gelobt. Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche erschien 2010 und landete im gleichen Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Es ist die Geschichte von Aminat, erzählt von ihrer egozentrischen Großmutter Rosalinda, die sich über drei Jahrzehnte vom Ural der späten 70er bis ins Deutschland der späten 90er Jahre zieht. Es ist auch die Geschichte einer auf sehr spezielle Art dysfunktionalen Familie, deren Zügel die unverwüstliche Rosalinda durch alle politischen, kulturellen und geografischen Wirren hindurch fest in den Händen hält.
Sonntag 29. Januar 11.30 Uhr, Kneipe Rotkehlchen/Waggonhalle