Klinik Sonnenblick im Dissens zwischen Ortstermin und Bebauungsplan
Marburg 29.3.2012 (yb) Der morgigen Stadtverordnetenversammlung liegt als Tagesordnungspunkt 10 der ‚Bebauungsplan Nr. 8/29 Klinik Sonnblick‘ zur Beschlussfassung vor. Mit diesem Bebauungsplan wird Baurecht für einen Neubau geschaffen, als Folge davon kann das historische Klinikgebäude abgebrochen werden. Alle Weichen sind dafür gestellt, nach Recht und Gesetz versteht sich. Es hat umfangreiche Vorbereitungen gegeben, Bauverwaltung und städtische Gremien waren einbezogen mit Denkmalbeirat und Bauausschuss. Öffentlichkeit und Träger öffentlicher Belange wurden gemäß Baugesetzbuch beteiligt. Mit Ausnahme der Fraktion Marburger Linke wollen die Stadtverordneten dem Bebauungsplan mit Neubauvorhaben – und damit dem Abbruchbegehren des Klinikbetreibers Deutsche Rentenversicherung Hessen – zustimmen.
Damit wird in Marburg ein besonderes und herausragendes Bauzeugnis der Moderne aufgegeben – einem richtungsweisenden Klinikbau des Architekten Werner Hebebrand droht die Vernichtung durch Abbruch. Klinikbetreiber, Stadt Marburg und die Öffentlichkeit, mithin viele Beteiligte, darunter der Marburger Denkmalbeirat und das Landesamt für Denkmalpflege hintenan, verweigern die Wahrnehmung der Klinik Sonnenblick als denkmalwürdig und negieren ihre Qualität als Kulturdenkmal. Damit wird in Marburg und darüber hinaus ein besonderes Zeugnis modernen Klinikbaus in der Tradition des Bauhaus aufgegeben und verschwinden. An seine Stelle soll treten ein gesichtsloser Neubau, ein weiteres Zeugnis „beliebiger Dutzendarchitektur“ um die IG MARSS begrifflich zu zitieren, die in der ‚Causa Sonnenblick‘ alleine durch Schweigen und offenbares Wegsehen (also nicht) in Erscheinung getreten ist.
Die Vorgeschichte ist verwickelt und widersprüchlich, was nicht verwundert – geht es mit dem Neubau um ein sattes 30-Millionen-Euro-Projekt, mit entsprechenden Interessen von Planern und Bauwirtschaft samt Finanzierung. Alles geht und funktioniert natürlich gemäß der Vorschriften, nach Recht und Gesetz. “Nicht alles, was juristisch rechtens ist, ist auch richtig“ deklamierte der unlängst zurückgetretene Bundespräsident. Dass die Ignoranz von Qualität und Denkmalwürdigkeit der Klinik Sonnenblick nicht richtig, vielmehr unangemessen ist, wird als Einsicht und Betrachtung in Marburg (allenfalls und bestenfalls) in Zukunft nach deren Verschwinden zu konstatieren sein – wieder einmal und einmal mehr. Das genau artikulierte die Kunsthistorikerin Dr. Jutta Schuchard (Zentralinstitut für Sepulkralkultur Kassel) mit Verweis auf stadtbekannte Marburger Beispiele für Abbruch und Denkmalvernichtung nach einem Ortstermin mit Besichtigung am 23. März. Davon später mehr.
Die 1932 als modernste Tuberkuloseheilstätte nach den Plänen von Werner Hebebrand eröffnete Klinik Sonnenblick hatte zunächst 100 Betten. In den fünfziger und achtziger Jahren gab es Umbauten und Erweiterungen des langgestreckten Baukörpers. Sie wird von der Deutschen Rentenversicherung Hessen mit 180 Betten seit längerem als Rehabilitationsklinik mit Schwerpunkt onkologischer Erkrankungen betrieben. Dem aktuellen Vorhaben und Planungen für einen Neubau gingen Planungen für eine Sanierung vorweg. Doch diese wurden auf einmal beiseite gelegt, um einen Neubau zu verwirklichen. 25 Millionen Euro Kosten für eine Sanierung sollen dabei kalkuliert worden sein. Was den Träger zu seiner Umorientierung veranlasst hat, ist nicht bekannt. Es hat innerbetriebliche Widerstände gegen einen Neubau gegeben, die zunächst beseitigt wurden. Danach ist die Geschichtsträchtigkeit der Gebäudeanlage als Problem aufgetaucht. So konnte es keinesfalls eine grundständige Untersuchung und Würdigung der Denkmaleigenschaften geben.
Ein kompetentes Gutachten hätte womöglich zu Tage – und das Denkmalrecht zur Geltung und Wirksamkeit – gebracht, dass die Klinik Sonnenblick mit ihrem ursprünglichen Architekten Hebebrand als Denkmal, Kulturdenkmal und Bestandteil einer Gesamtanlage samt der vorgelagerten Parkanlage zu bewerten wäre. So traf es sich gut, dass der örtliche Denkmalpfleger des Landesamtes für Denkmalpflege kurz vor Eintritt in den Ruhestand war. Irgendeine Begutachtung musste es jedoch geben, sei es eine informelle. Ein ehemaliger Stadtbaudirektor hat sich dafür her gegeben und verlautbarte gestützt auf einen „kurzen Durchgang“ ein Gefälligkeitsgutachten. Damit war der Denkmalbeirat zufrieden und hat am 2.11.2010 mehrheitlich gegen eine Eintragung in die Denkmalliste gestimmt.
Mit solchem Beschluss des Denkmalbeirats konnte beim Landesamt für Denkmalpflege in Marburg ein vertretungsweise unterschriebenes Testat besorgt werden. Dieses findet sich als amtliche Bestätigung nicht gegebener Denkmalwürdigkeit in den Unterlagen zitiert. Ohne Besichtigung eines Denkmalpflegers oder eines beauftragten kompetenten Gutachters umschiffte die Klinikbetreiberin die Hürde des Denkmalrechts. Bauverwaltung und Denkmalbeirat in Marburg funktionierten in der Sache willfährig. Bezogen auf die Gremien bedurfte es dazu freilich noch einer Drohkulisse. Die Standortfrage und damit verbunden die vorhandenen 120 Arbeitsplätze dienten gegenüber der Stadt Marburg dafür als Keule.
Als Termin für ein vorbereitetes Showdown diente die Sitzung des Planungs- und Bauausschusses im Mai 2011. In seiner Präsentation ist es Chefarzt Ulf Seifart gelungen die große Mehrheit der Mitglieder vom schlechten baulichen und brandtechnischen Gebäudezustand zu überzeugen. Dazu kämen betriebswirtschaftliche Defizite. Die zugleich mitgeteilte hohe Patientenzufriedenheit und das vorzügliche Ranking der Klinik ganz vorne in Deutschland stand für die Stadtverordneten dazu nicht im Widerspruch. Es war alleine Sache einer Stadtverordneten kritische Fragen zu stellen. Im gesamten und weiteren Verfahrensgang für den Bebauungsplan bis heute zeigte sich die Stadt Marburg einseitig beeindruckt vom Neubauvorhaben – und der behaupteten nur damit verbundenen Standortsicherung. Anders „die Stadt wurde hierbei doch erpresst“, wie es Stadtverordnete formuliert haben.
Angesichts gewisser Unruhe und Nachfragen bezüglich eines Erhalts und Umnutzung für Wohnzwecke (Studentenwohnheim) – wohl zugleich angesichts der oberflächlichen und wackeligen Beschäftigung mit der Klinik seitens des Denkmalbeitrats – gab es im Sommer 2011 noch einen Ortstermin mit Besichtigung. Gewisse Unsicherheiten seitens des Chefarztes wurden davon berichtet. Ein „Teilerhalt der Gebäude“ sei vielleicht möglich, soll er geäußert haben. Doch die Sache behielt ihren Lauf und liegt im Bebauungsplan als umfängliches Paket, versehen mit mehreren Gutachten samt Umweltbericht, darunter Gutachten zum Artenschutz und Schallschutz, am 30. März 2012 zum Beschlussfassung vor. Die Mehrheiten sind gesichert, alleine die Marburger Linke hält dagegen.
Das Landesamt für Denkmalpflege erklärte sich im Sommer 2012 für nicht (mehr) zuständig. Schriftlich vorgelegte Fragen zum Verfahren und zur denkmalrechtlichen Klassifizierung von Seiten der Redaktion das Marburger. wurden nicht beantwortet. Nur mit äußerster Mühe ist es dann gelungen ein informelles Gespräch mit einem Mitarbeiter zu führen. Die Angelegenheit der Klinik Sonnenblick war für das Amt gelaufen, auch „wenn dem Landesamt in Marburg offenbar der Bau von Hebebrand entgangen ist“, wie ein verantwortlicher Mitarbeiter des Landesamts in Wiesbaden sich ausdrückte.
In dieser Situation und Konstellation kam es jetzt kurzfristig zu einer erneuten Besichtigung in Federführung des Historikers Angus Fowler. Am 23. März visitierten ausgewiesene und prominente Fachleute die Klinik, mit dabei Bürgermeister Franz Kahle als Baudezernent und Bauamtsleiter Jürgen Rausch. Im anschließenden Pressegespräch kam zu Tage, worüber die Oberhessische Presse mit der Überschrift „Architekten und Historiker bangen um Sanatorium“ berichtete (28.3.2012). Seitens der Stadt Marburg als „privater Termin“ bezeichnet, berichteten die Teilnehmer von Eindrücken und Einschätzungen in krassem Kontrast zu allem Vorhergehenden.
„Uns eint nach der Besichtigung eine Verwunderung darüber, dass diese Klinik nicht als Denkmal klassifiziert ist“ sagte Dr. Thomas Flierl, früherer Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin. „Der Klinikbau Sonnenblick war Referenz für Werner Hebebrands anschließende Tätigkeit in der Sowjetunion und war ein Typus für späteren modernen Krankenhausbau.“ Flierl zeigte sich erstaunt, dass es, wie seine Nachfrage zu den Bauakten ergab, keine Dokumentation gebe.
„Es muss doch nachvollziehbar gemacht sein, warum es sich hier nicht um ein Denkmal handelt“ sagte Kunsthistorikerin Dr. Jutta Schuchard und bemängelte das fehlende Gutachten im Votum des Denkmalbeirats. Für Marburg sei damit einmal mehr der Verlust wertvoller Bausubstanz zu befürchten, wofür es eigentlich genügend leidvolle Erfahrungen geben müsste. „Ein klares Versagen der Denkmalbehörde“ bekräftigte Thomas Flierl diese Einschätzung.
Geradezu befremden muss es, wenn dazu Bürgermeister Kahle dazu kommentiert hat, dass bei einer anderen denkmalrechtlichen Bewertung eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Es ist doch gerade unterlassenes denkmalorientiertes Handeln seitens der Stadt Marburg, das den Bebauungsplan mit Abbruch hervorgebracht hat. Viel weniger als die Stadtverordneten können Stadtplanung und Baudezernent ihr eigenes Verfahren und ihre Voreingenommenheit jetzt als Begründung anführen, es sei denn, man will die Abläufe völlig verdrehen.
„Die Frage nach Erhalt und Modernisierung der Klinik stellt sich zudem aus einer ökologischen Betrachtung“ verlautbarte Rüdiger Maul, früherer Oberbaurat in Speyer, bei dem Termin vor Ort. Die gegenwärtigen Pläne mit der Neubauplanung und deren Platzierung würden einen nachfolgenden Abriss unabwendbar machen.
Angus Fowler sieht sich als Ergebnis des Ortstermins veranlasst dazu aufzurufen „eine verhängnisvolle Entscheidung für den Abbruch zunächst auszusetzen bzw. zu verschieben, um die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern und Zeit für die Erlangung neuer Erkenntnisse zur Bedeutung der Anlage zu gewinnen.“
Für die morgige Stadtverordnetensitzung sind die Weichen gestellt: Die Verabschiedung des Bebauungsplan Nr. 8/29 in seinem Lauf, halten in Marburg weder Ochs noch Esel auf.
Daran wird der erstmalige Ortstermin kompetenter Architekturkenner am 23. März wohl nichts ändern.