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Kirchturmspolitik im Marburger Land – Bürgermeister proben Aufstand als Sezession der Milchkannen

Marburg 10./11.5.2012 (yb) Fünf Bürgermeister stellen sich an die Gleise der Main-Weser-Bahn und glauben Krach schlagen zu dürfen. In einem Offenen Brief reklamieren sie Ansprüche, die sie anderen Kommunen an der Strecke – und den vielen Kommunen, die über den Bahnknoten auf Nebenstrecken Marburg angefahren werden – nicht zugestehen wollen. Schlecht informiert und mit allzu kurzsichtigen ‚Argumenten‘ meinen Peter Eidam (Weimar), Georg Gaul (Lohra), Andreas Schulz (Ebsdorfergrund), Reinhold Weber (Fronhausen) und Bernd Wieczorek (Lollar) minoritäre Interessen ihrer Kommunen ganz nach vorne stellen zu müssen. Dabei scheuen sie nicht zurück der großen Mehrheit „unsolidarisches Verhalten“ vorzuwerfen. In ihrem Offenen Brief findet sogar die ebenso abwegige wie wundersame Aussage  “dem demografischen Wandel erfolgreich begegnen“ zu können – und das mit Schienenanbindung. Es geht dabei um rund einhundert ein- und aussteigende Bahnfahrer, die in einer Tageszählung an den kleinen Zwischenstationen gezählt werden konnten. 

Zunächst ein Blick zurück und auf das Ganze. Oberhessen und Kurhessen waren im 19. Jahrhundert Gebiete ausgesprochener Rückständigkeit. Ländlich-bäuerlich strukturiert, war man arm und abgehängt von der Industrialisierung. Als Ausdruck reaktionärer Gesinnung hatte in vielen Orten der politische Antisemitismus zahlreiche Anhänger. So manches änderte sich mit dem Anschluss an die große Welt, als die Main-Weser-Bahn von Frankfurt nach Kassel zwischen 1849 und 1852 in Betrieb genommen wurde. Auch heute noch ist diese Bahnverbindung für den regionalen und überregionalen Zugverkehr in Hessen bedeutsam. Dabei kommen dem Marburger Bahnhof wichtige Knotenpunkt- und Verteileraufgaben zu.

Seitens des Landes Hessen wurden gerade die Mittel zur Finanzierung des Regionalverkehrs – seit langem vom Fernverkehr der Bahn abgetrennt und nur mit anderen Fahrkarten und Tarifsystem nutzbar –  von 420 auf 400 Millionen Euro im Jahr gekürzt. Dagegen kam kein Protest der fünf Bürgermeister. Mittelkürzungen belasten die Leistungsfähigkeit zudem in einer Zeit, wo viele den Klimawandel und ökologische Nachhaltigkeit zu ihrem Anliegen machen. Durch die Änderung des Intercityfahrplans Ende 2009 wurde für den regional bedeutsamen Bahnknotenpunkt Marburg der bestehende Stundentakt mit schnellen Zügen zunichte gemacht.

Gleisanlagen der Main-Weser-Bahn

Für eine zumindest teilweise Wiederherstellung eines Stundentaktes gibt es aktuelle Aktivitäten, womit sich zuletzt auch der Kreistag des Landkreises Marburg-Biedenkopf beschäftigt hat. Ein schlüssiger Vorschlag sieht vor nach 9.00 Uhr morgens, wenn die Hauptpendlerströme abgewickelt sind, für fünf Zugpaare eine Beschleunigung auf dem Streckenabschnitt zwischen Marburg und Gießen zu erreichen. Durch die Beschleunigung der Züge der Hessischen Landesbahn (HLB)  zwischen Gießen und Marburg könnte in Marburg der Stundentakt und gleichzeitig der Anschluss zu einer ganzen Reihe von Buslinien in Marburg teilweise in die Region sowie zur Oberen Lahntalbahn hergestellt werden.

Die kleinen Stationen zwischen Marburg und Gießen, auch die Haltestellen Marburg Süd und Oswaltsgarten in den beiden Städten (!), würden zu Gunsten einer schnellen Verbindung und Wiederherstellung des Stundentakts in Marburg weniger Zughalte haben. Vom Vorteil der Vertaktung würde eine vielfach größere Zahl Bahnfahrer in Marburg profitieren. So wurden tagsüber 1.034 Fahrgäste gezählt, in Gießen und Marburg und dabei 86 Prozent aller Nutzer. Dazu eröffnen sich Verbesserungen für die beiden Städte Kirchhain und Stadtallendorf, sowie für den gesamten Nordkreis über die Lahntalbahn Richtung Biedenkopf und Burgwaldbahn nach Frankenberg. Der Nutzen vieler steht dabei mithin gegen gewisse Verluste weniger in den Haltestationen Niederweimar, Fronhausen und Lollar.

Ein Kirchturm ist ein Kirchturm und der eigene ist den fünf Bürgermeistern allemal näher als sachliche Beschäftigung mit dem Gesamtanliegen. Das Oberzentrum und die Universitätsstadt Marburg ist größter Zahlmeister für die Kreisumlage, wovon die sich sezessionistisch gebärenden Bürgermeister mit ihren Kommunen gerne nutznießen. Als veritabler Arbeitgeber für Tausende Beschäftige aus den Umlandgemeinden ist Marburg gut, eine Forderung nach Wiederherstellung des Stundentakt für das Oberzentrum und zahlreiche andere Städte und Gemeinden gehört sich nicht. Die Fünf behaupten Unverständnis: „…völlig unverständlich, hat das Stadtparlament der Stadt Marburg am 24.02.2012 beschlossen, Züge der Hessischen Landesbahn in Zukunft als Regionalexpress ohne Halt zwischen Marburg und Gießen verkehren zu lassen und dies beim RMV zu bestellen.“

Genau darin artikuliert sich offenbar das Problem der Akteure. Diskussionen und Aktivitäten zur Beseitigung des Taktverlusts für Marburg und die Region gibt es seit langem. Als Ergebnis hat das Marburger Parlament im Februar eine Entschließung verabschiedet. Ein Vorschlag an den Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) als Fahrplangestalter sieht in Abwägung der Gesamtlage vor, im Tagesbereich ab 9.00 Uhr – und damit in ausdrücklicher Wahrnehmung der Anbindung von Bahnreisenden aus der Fläche – bei füng Zugverbindungen eine Beschleunigung zu erreichen, um genau den Stundentakt wieder möglich zu machen.

So weit blicken die fünf Bürgermeister nicht, wollen sie offenbar auch nicht. Sie nehmen stattdessen starke Worte in den Mund und ignorieren zugleich deren Bedeutung. „Unser Ziel war es stets, dem demografischen Wandel nicht nur zu begegnen, sondern zu verbessern.“ Nicht genug mit dergestalt höchst eigenwilliger Zielbekundung. Im Offenen Brief wird nicht davor zurück geschreckt zu behaupten: „Dieser Prozess wird durch das unsolidarische Handeln der Stadt Marburg auf den Kopf gestellt.“

In derselben Angelegenheit kommen vom Amtskollegen der Fünf aus Kirchhain, Bürgermeister Jochen Kirchner, ganz andere Aussagen. Kirchner verweist auf doppelt so viele Menschen, die in Neustadt, Stadtallendorf, Kirchhain und Cölbe leben und zur Arbeit fahren.

„Ich vertrete das Interesse meiner Pendler“ sag Andreas Schulz und bringt etwas, das nun einmal engstirniges Partialinteresse ist, auf den Punkt. „Solidarität besteht für mich in der Rücksichtnahme auf Interesse, die andere haben“ führt er auf Nachfrage aus. Mit Ebsdorfergrund habe kein Mensch geredet, beklagt er beinahe jungenhaft. „Wir haben reagiert. Das war der Reflex“ waren seine Worte. Auf die Frage, wie er es denn mit Solidarität zur viel größeren Zahl der Bahnfahrer und Anlieger, etwa aus Biedenkopf oder Wetter halte, kommt keine Antwort von ihm.

So haben sich fünf Bürgermeister, einer davon noch schnell und hilfsweise aus Lollar, Landkreis Gießen, herbei telefoniert, an das lange Gleis der Main-Weser-Bahn zum Pressefoto gestellt. Solche Aufständigkeit von Bürgermeistern ist wohlfeiles Thema. Eine Sezession der Milchkannen ist schnell gemacht und in der Zeitung winken billige Schlagzeilen. Was schert uns die Region, Resolution aus Marburg und sachliche Diskussion im Kreistag. Sicherheitshalber noch etwas dicke Backen dazu als Drohung.

„Es kann nicht angehen, dass mit unseren Mitgliedsbeitragen das unsolidarische Verhalten der Stadt Marburg ( als NICHT-Mitglied des RNV ) gestützt wird, ansonsten muss die Mitgliedschaft in Frage gestellt werden“ findet sich als letzter Satz mit Stoßrichtung zum kleinregionalen Verkehrsverbund auf Landkreisebene zu lesen. Blöder geht´s nimmer. Sie fordern einseitig regionale und überregionale Anbindung mit Bus und Bahn und drohen zugleich aus der kommunalen Organisation RNV auszutreten.

Seinen ‚Erfolg‘ konnte Bürgermeister Schulz, zudem Vorsitzender der EU-Förderregion ‚Marburger Land‘, am nächsten Tag gedruckt finden. Grober Klotz erbringt grobes Schrot in der Presse, auch wenn es unzutreffend und unsachlich gerät. „Bürgermeister kämpfen für ihre Bahnhöfe“ gab es am 9. Mai im Gießener Anzeiger“ zu lesen.

Gleich vielfach falsch. Weder sind es Bahnhöfe, Ebsdorfergrund hat keinen Bahnanschluss und die Haltestellen still legen will niemand. Aber so ist das in Oberhessen. Irgendwas wird schon gedruckt – sei es auf einen seichten und unausgegorenen Reflex hin.

Würden damit nicht die Arbeit und seriösen Absichten vieler Akteure bis hin zu den Anschlussmöglichkeiten für die zwei Nebenstecken Obere Lahntalbahn und Burgwaldbahn und insgesamt leistungsfähige Reisemöglichkeiten für viele Tausend Bahnnutzer kurzsichtig und kurzschlüssig konterkariert, könnte Mensch noch mit den Schultern zucken. Provinzposse.

Doch jetzt gibt es viel zu reparieren zu Gunsten der Leistungsfähigkeit auf der alten und wichtigen Main-Weser-Bahn.

Hintergrundinformationen
Von heute 33 verkehrenden Zügen pro Richtung, die zwischen Gießen und Marburg halten, sollen 5 Züge in Zukunft durchfahren. 28 Züge würden weiterhin halten. Dass ab Marburg nach Treysa heute nur noch 21 Züge pro Tag und Richtung verkehren, welche überall halten, interessiert die 5 Bürgermeister natürlich auch nicht. Soweit geht deren Solidarität nicht.
—> Weitere Berichte in das Marburger. per Stichwort Main-Weser-Bahn über die Suchfunktion.

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