Präsidentschaftswahlen in Frankreich
Marburg 21.5.2012 (red) Europa ist nicht alleine mit einer wirtschaftlichen Krise konfrontiert. Zugleich gibt es eine Repräsentationskrise zu beobachten. So wurden in 2011 in Italien und Griechenland Regierungen ausgetauscht, ohne dass dort Wahlen stattgefunden hätten. Um so größere Bedeutung kommt stattfindenden Wahlen als Ausdruck demokratischen Willens zu. Wähler reagieren auf die Krise, ob bei Landtagswahlen in Deutschland oder in Griechenland und zuletzt in Frankreich. Der Präsidentenwahl in Frankreich widmet sich ein Gastbeitrag von Nico Biver, der für Interessierte Hintergründe und Zusammenhänge transparenter mach kann.
Die Renaissance der radikalen Linken
von Nico Biver. Der Sieg des Sozialisten François Hollande bei der Stichwahl am 6. Mai beendet eine 17jährige Herrschaft konservativer Präsidenten in Frankreich. Ob damit ein Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stattfinden wird, ist nach allen Erfahrungen mit sozialdemokratischen Regierungen in Europa fraglich. Zumindest kann man hoffen, dass die übelsten Auswüchse der Migrations- und Innenpolitik seines Vorgängers Nicolas Sarkozys gestoppt werden und das neoliberale Bündnis Frankreich-Deutschland angreifbarer wird.
Einen Einfluss auf die Politik Hollandes werden zweifellos auch die Entwicklungen vor und nach dem ersten Wahlgang am 22. April auf den beiden Rändern des politischen Spektrums haben. Sollte die Linksfront (Front de Gauche, FG) ihren Aufschwung auch bei den Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni 2012 fortsetzen, könnten die Chancen für eine Politik, die innen- wie außenpolitisch nicht den neoliberalen Dogmen verpflichtet ist, zunehmen.
Der Mobilisierungserfolg der Front de Gauche
Die FG und ihr Kandidat Jean-Luc Mélenchon haben dem Wahlkampf ihren Stempel aufgedrückt. 42 Prozent der Befragten bescheinigten der FG, den besten Wahlkampf geführt zu haben. Mélenchon hatte Anfang 2011 seine Bereitschaft zur Kandidatur für die FG bekundet, die vor den letzten Europawahlen 2009 aus der Kommunistischen Partei Frankreich (PCF), der Ende 2008 nach deutschem Vorbild gegründeten Partei der Linken (PG) Mélenchons und einer Absplitterung des Revolutionären Kommunistischen Bundes (LCR) entstanden war. Im Juni 2011 stimmte die PCF in einem Mitgliederentscheid mit 59 Prozent dafür, die Kandidatur des ehemaligen Mitglieds der PS zu unterstützen.
Die Umfragewerte der FG stiegen von 5 bis 6 Prozent auf durchschnittlich gut 14 Prozent Anfang April 2012. Die Anzahl der Franzosen, die eine „gute Meinung“ von Mélenchon haben, stieg im gleichen Zeitraum von 37 auf 62 Prozent. Er lag damit auf Platz 7 vor Hollande (58 Prozent), Sarkozy (40 Prozent), Marine Le Pen (35 Prozent) und derem Vater (18 Prozent). 13 Prozent hatten sogar eine „sehr gute Meinung“ von Mélenchon, mehr als bei allen anderen Politikern.
Der Wahlkampf der FG war davon geprägt, den Menschen die Hoffnung auf eine Veränderung der Gesellschaft wieder zu geben. Die Rückbesinnung auf die revolutionäre und linke Geschichte Frankreichs sollte dabei helfen. Großkundgebungen fanden an symbolträchtigen Jahrestagen oder Orten mit bis zu 120.000 Teilnehmern statt. Gleichzeitig präsentierten Mélenchon und die FG eine Zukunftsvision mit einer Kampagne für eine demokratische, parlamentarische und soziale VI. Republik und ermunterten die Bürger, selbst aktiv zu werden und nicht nur mit ihrer Wählerstimme für einen Kurswechsel zu sorgen.
Inhaltlich standen soziale und wirtschaftliche Forderungen im Mittelpunkt
- Mindestlohn von 1700 Euro
- Beibehaltung der Rente ab 60
- Verbesserung der Staatseinnahmen durch eine 100-Prozent Steuer für alle Einkommen ab 360.000 Euro
- direkte Kreditvergabe durch die EZB
Doch der Wahlkampf beschränkte sich nicht auf die Kernbotschaften. Das macht schon das Programm „L’Humain d’abord“ (Das Menschliche zuerst) deutlich, das 400.000-mal verkauft wurde. Die Demokratisierung des politischen Systems und der Wirtschaft, die direkte Beteiligung der Bürger und die strikte Trennung von Staat und Religion waren ein weiterer Schwerpunkt bei den Kundgebungen… Auch die Gleichstellung der Geschlechter war immer Thema, so hinsichtlich der besonderen Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt oder des Rechts auf kostenlose Abtreibung, das von Le Pen in Frage gestellt wurde.
Die Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Konkurrenten Hollande spielte nur eine geringe Rolle. Mélenchon machte aber immer die Unabhängigkeit der FG deutlich und verwies darauf, dass das Programm Hollandes keine Regierungsbeteiligung und keine Wahlabsprachen im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen ermögliche. Konsequenterweise rief er auch nicht auf, im zweiten Wahlgang für Hollande zu stimmen, sondern gegen Sarkozy.
Mélenchon widmete sich im Wahlkampf vor allem der Politik Sarkozys und führte – anders als Hollande – eine offensive Auseinandersetzung mit der Nationalen Front (FN) und Marine Le Pen. Er ließ sich keine Debatten über geschächtetes Fleisch oder eine angeblich notwendige Verschärfung von Sicherheitsgesetzen nach den Attentaten in Toulouse aufdrängen. Auf seinen Kundgebungen betonte er stattdessen die Gleichstellung von allen Franzosen, unabhängig von ihrer Herkunft. In Marseille sang er ein Hohelied auf die Einwanderung und die Einheit der Franzosen und Maghrebiner.
Die Begeisterung bei den ersten Kundgebungen führte dazu, dass der Zulauf immer größer wurde und bald keine bezahlbaren Säle mehr verfügbar waren. Die FG veranstaltete die meisten ihrer Wahlveranstaltungen im Freien mit Teilnehmerzahlen von bis zu 120.000 (in Marseille). Hollande und Sarkozy imitierten die FG mit eigenen Großkundgebungen…
Das Wahlergebnis der Front de Gauche
Angesichts der so hochgeschraubten Erwartungen blieb bei einem Ergebnis von 11,1 Prozent für Mélenchon der Frust am Wahlabend bei vielen Sympathisanten nicht aus. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die 17,9 Prozent, die Le Pen holen konnte.
Gemessen an früheren Wahlergebnissen und an den Umfragen von 2011 ist das Ergebnis jedoch als großer Erfolg zu werten. Seit 1981 hat kein Kandidat links der Sozialisten eine derart hohe Zustimmung gefunden…
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass zu Beginn der Wahlkampagne nur eine Minderheit der Mélenchon-Wähler sich schon sicher war, ihn zu wählen. Viele blieben unsicher bis zum Schluss. Andererseits stellte sich heraus, dass 31 Prozent der Wähler Hollandes (und damit fast 9 Prozent aller Wähler) mit einer Wahl Mélenchons geliebäugelt hatten.
Ein Teil der Sympathisanten Mélenchons hat sich am Ende doch für den „vote util“ (nützliche Stimmabgabe) für Hollande ausgesprochen. Das Trauma von 2002, als kein linker Kandidat in die Stichwahl kam, weil die Linke wegen ihrer Zersplitterung von Le Pen überholt wurde, sitzt anscheinend noch tief.
Darüber hinaus sind nach dem rasanten Anstieg der Umfragewerte Mélenchons spätestens Anfang April seine Gegner aufgewacht. Die rechte und linksliberale Presse versuchte mit angeblichen Aussagen Mélenchons zu Kuba, Venezuela oder Tibet, mit Berichten über Kontakte, die er zu Beratern Sarkozys pflegte, oder mit Behauptungen, er wolle die Terrormethoden der Französischen Revolution wiederbeleben, seinen Ruf zu schädigen.
Das Ziel der FG, der FN die Volksstimmen („vote populaire“), die der Arbeiter, der Angestellten und der unteren Mittelschichten und Ausgegrenzten streitig zu machen, ist nicht erreicht worden. Im Gegenteil, im Vergleich zu 2007, zu den Europawahlen 2009 und den Regionalwahlen 2010 sind sogar mehr Stimmen aus dem linken Lager an die FN gewandert als umgekehrt. Jeweils 7 bis 8 Prozent der radikalen linken Stimmen der Wahlen zwischen 2007 und 2010 gingen 2012 an Marine Le Pen, aber nur 1 bis 2 Prozent der Stimmen der FN flossen an Mélenchon.
62 Prozent der Franzosen waren am Wahltag der Meinung, dass es zu viele Einwanderer in Frankreich gäbe. 60 Prozent halten den Islam für eine Bedrohung des Westens. Auch ein gutes Drittel der Wähler Mélenchons teilt diese Meinungen. Diese Werte waren im letzten Jahrzehnt zeitweilig schon mal höher und sind in den letzten Jahren wieder angestiegen.
Die FG hat keine Rücksicht genommen auf konservative oder rassistische Einstellungen möglicher Wähler. Das mag nicht dazu beigetragen haben, den Stimmenanteil Le Pens zu drücken, aber die offensive Werbung für die Themen der Linken hat die eigenen Anhänger mobilisiert und andere progressive Wähler motiviert, ihren Parteien den Rücken zu kehren.
…Überdurchschnittlich hoch war auch der Anteil der Nichtwähler: Von denen, die 2007 nicht gewählt hatten und diesmal teilnahmen, stimmten 17 Prozent für Mélenchon.
Das Abschneiden der extremen Rechten
Auf der extremen Rechten ist das Ergebnis von 17,9 Prozent für Marine Le Pen, die Nachfolgerin ihres Vaters Jean-Marie als Kandidatin der FN, in den Medien als „Durchbruch“ und „Sieg“ bezeichnet worden, obwohl sie ihre Ziele – mehr als 20 Prozent und den Einzug in den zweiten Wahlgang – nicht erreichen konnte. Das Ergebnis ist dennoch auffällig: Die Umfragen in den Wochen vor der Wahl ließen niedrigere Zahlen erwarten, der Wähleranteil lag um fast 8 Prozent höher als. Das war allerdings nicht das Spitzenergebnis der extremen Rechten. 2002, als Jean-Marie Le Pen und sein ehemaliger Stellvertreter Bruno Mégret gegeneinander kandidierten, hatte sie in der Summe fast zwei Prozent mehr erzielt. Auch im Vergleich zu den Umfragewerten vom Sommer 2011, als Marine Le Pen mit 24 Prozent sogar an der Spitze stand, ist das Ergebnis ein Rückgang.
Dennoch steht die FN auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Durch einen anderen Stil ist es mit Marine Le Pen an der Spitze gelungen, die FN salonfähiger zu machen. Beim Rassismus bzw. bei der „Priorität für die Franzosen“, wie es die FN zu sagen pflegt, bleibt es, seit man 1986 darauf gekommen war, dass das Stimmen einbringen könnte. Der Antiislamismus hat mittlerweile Vorrang vor dem Antisemitismus erhalten. Während ihr Vater sich noch die neoliberale Politik Ronald Reagans zum Vorbild nahm, würzte sie die Politik der FN mit ein paar Prisen Antiglobalisierung – wobei sie vor Anleihen bei linken Autoren nicht zurückschreckte – und mit etwas Hetze gegen die Eliten. Anders als ihr Vater ist sie außerdem bemüht, das Verhältnis zur regierenden Rechten zu verbessern. Diese Bemühungen um eine Imageverbesserung wurden von den konservativen Medien gerne gefördert, da der „cordon sanitaire“ um die FN die Regierungsrechte an Bündnissen mit ihr gehindert hatte und so das rechte Potential in Frankreich nicht voll ausgeschöpft werden konnte.
Die Anzahl der Menschen, die eine eher gute Meinung von der FN haben, ist von Februar 2011 bis Februar 2012 von 12 auf 20 Prozent gestiegen. 37 Prozent der Befragten stimmten im April 2012 den Ideen der FN vollständig oder teilweise zu, der höchste Wert, seit die Frage erstmals 1984 gestellt wurde. Nur noch 51 Prozent halten die FN für eine Gefahr für die Demokratie.
Das dürfte nicht nur das Verdienst Marine Le Pens sein, sondern auch Sarkozys, dessen Politik bezüglich Migranten, innere Sicherheit und Islam immer mehr der der FN ähnelt. Tatsache ist, dass durch diese Politik Sarkozys nicht nur die FN, sondern auch ihre Vorschläge immer stärkeres Gehör finden. Da wundert es nicht, dass 64 Prozent der Wähler Sakozys und 59 Prozent der Le Pens dafür sind, dass die bisher regierende Union für eine Volksbewegung (UMP) und die FN ein Wahlabkommen schließen. Beim zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen im Juni 2012 könnten sich dann ihre jeweiligen Kandidaten zugunsten des Bestplazierten zurückziehen.
Damit steht man in Frankreich vor einem ähnlichen Dammbruch, was die Akzeptanz der extremen Rechten angeht, wie in den Niederlanden, Italien, Österreich, Finnland und Griechenland…
Perspektiven: Die Parlamentswahlen im Juni
Geht man davon aus, dass sich der Stimmenanteil der FG bei den Parlamentswahlen im Juni im Bereich des Präsidentschaftswahlergebnisses bewegen wird, kann die FG mit einer Parlamentsfraktion rechnen. Stimmen, die aus Angst vor der FN an Hollande gegangen sind, könnten zurück gewonnen werden. Der FG, der sich vor der Präsidentschaftswahl bereits einige Kleingruppen angeschlossen haben, kann angesichts der Streitigkeiten in der NPA eventuell mit weiterem Zuwachs rechnen oder zumindest Wahlabsprachen treffen…
Dass es bei den Parlamentswahlen zu einer linken Mehrheit kommt, ist nicht sicher. Erste Umfragen zeigen, dass die linken Parteien über keine Stimmenmehrheit verfügen. Ob es dennoch eine Mehrheit der Sitze für die Linke geben wird, wird auch davon abhängen, ob die Konservativen und die FN sich in den Wahlkreisen in der Stichwahl weiterhin gegenseitig die Stimme wegnehmen.
Nach einer erfolgreichen Parlamentswahl für die Linke dürfte es in der FG eine Diskussion um eine Regierungsbeteiligung geben. Mélenchon, der schon erklärt hat, keiner Regierung angehören zu wollen, scheint da zurückhaltender zu sein als die PCF. Sie schließt eine Regierungsbeteiligung nicht aus, falls es gelingen sollte, so ihr Vorsitzender Pierre Laurent, „die Situation ausreichend zu verändern, um einen wirklichen Wechsel möglich zu machen. Mitregieren kommt nicht in Frage, wenn kein Bruch mit der Austeritätspolitik ansteht.“ Die Diskussion in der FG um eine Regierungsbeteiligung wird auch davon abhängen, ob die PS und ihre Verbündeten allein eine Mehrheit erzielen. Wenn nicht, dann wird der Druck auf die FG wachsen, sich zu beteiligen, es sei denn, die PS und die Grünen können sich in der Mitte Verstärkung holen.
Diskussionen wird es auch über die organisatorische Zukunft der FG gegeben. Sie ist gegenwärtig ein Bündnis aus Organisationen, das selbst keine Mitglieder aufnehmen kann. Mit ihren 130.000 Mitgliedern verfügt die PCF über einerhebliches Übergewicht gegen über ihren Partnern, von denen der größte, die PG Mélenchons, gerade mal 11.000 Mitglieder zählt. Eine Auflösung des Bündnisses in eine neue Partei kommt für die PCF nicht infrage, weil man die organisatorischen Pfunde, über die man noch verfügt – darunter etwa 10.000 kommunale Mandatsträger – nicht riskieren will und weil viele Mitglieder an ihrem Parteimodell festhalten wollen.
…Sowohl die PCF als auch die PG haben in den letzten vier bis fünf Monataten etwa 3.000 neue Mitglieder gewonnen. Aber bei der PCF dürfte das nicht ausreichen, Mitgliederverluste auszugleichen.
Andere Linksbündnisse in Europa zeigen, dass ein Vielfaches an Mitgliedern organisiert werden kann, wenn die Bündnisse auch Einzelmitglieder aufnehmen. Beispiele hierfür sind die dänische Einheitsliste, Die Linken (Déi Lenk) in Luxemburg, der Linksblock (BE) in Portugal und die Vereinigte Linke (IU) in Spanien. Die dänische Einheitsliste, die die gegenwärtige Linksregierung in Dänemark von außen stützt, war 1989 von der KP, Linkssozialisten und Trotzkisten gegründet worden. Sie hat allein in den letzten beiden Jahren ihre Mitgliedszahl auf fast 8.000 verdoppelt. Die spanische IU ist ähnlich organisiert, auch wenn die KP eine erheblich größere Rolle spielt. In Luxemburg und Portugal haben sich die Gründungsorganisationen des Bündnisses inzwischen aufgelöst.
Die Stabilität solcher Bündnisse dürfte durch Einzelmitglieder erhöht werden, sie beruht aber hauptsächlich auf den inhaltlichen Übereinstimmungen der Bündnispartner.
Der Gastbeitrag in das Marburger. ist eine gekürzte Fassung des Textes, den Nico Biver für die Zeitschrift M verfasst hat. Der Autor lebt in Marburg und ist ehrenamtlicher Stadtrat für die Fraktion Marburger Linke.