Credo für politische und finanzielle Bürgerbeteiligung bei Energiewende vor Ort
Marburg 23.5.2012 (yb) Rappelvoll war der Sitzungssaal des Kreistags gestern Abend bei der Veranstaltung des Landreises zur Bürgerbeteiligung bei Windkraftanlagen. Auch zahlreiche Bürgermeister und andere Vertreter von Kreiskommunen nutzten die Gelegenheit zur Sachinformation aus erster Hand und zum Austausch. Nach drei intensiven Stunden konnten die Teilnehmer um viele Informationen reicher und mit wertvollen Impulsen zu Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung für Projekte zur Gewinnung Erneuerbarer Energien im Kopf den Heimweg antreten. Der Ansatz des Landkreises mit kompetenten Referenten sachliche Informationen zu bieten ist aufgegangen. Die gewollte Moderatorenaufgabe, wie es Landrat Fischbach bei seiner Begrüßung benannte, für den Landkreis macht viel Sinn und wurde dankbar aufgenommen. Dass zukünftig „Windräder näher ranrücken werden“ ist für Fischbach dabei ausgemachte Sache, auch wenn der Landkreis dabei nicht selbst als Investor und Betreiber in Erscheinung treten will, wie der Landrat klar machte. Die Vermittlung grundlegender Informationen bei Einbeziehung der BürgerInnen in der Prämisse für eine Wertschöpfung in der Region seien dabei geboten.
Einen großen Bogen spannte das Eingangsreferat von Harald Metzger vom Dezernat Regionalplanung des Regierungspräsidiums rund um den im Landkreis in heftiger Diskussion befindlichen Komplex Stromerzeugung mit Windkraftanlagen. Dabei wurde klar, dass auch in Hessen an der Energiewende inzwischen mit Nachdruck gearbeitet wird, wobei es deutlichen Rückstand gerade bei Windenergieanlagen aufzuholen gilt.
Von gerade einmal 0,6 Terrawattstunden (TWh: 1 TWh = 1 Billion Wattstunden (Wh) = 1 Milliarde Kilowattstunden (kWh)) Leistung bei installierten Windkraftanalagen im Jahr 2006 lautet die Zielstellung den Ausbau bis 28 TWh zu lenken. Dies entspricht einer Steigerung von 4.000 Prozent, wie Metzger verdeutlichte.
Mit dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 12. Mai 2012 sind die im Regionalplan Mittelhessen getroffenen Festlegungen von Vorranggebieten für Windenergie unwirksam, weil damit außerhalb der Vorrangebiete Windenergieanlagen ausgeschlossen wurden. Damit gibt es derzeit keine überörtliche Festsetzung und Steuerung von Windenergieananlagen im Regionalplan. Für Windkraftanalgen im laufenden Genehmigungsverfahren bedeutet dies, dass sie gemäß der allgemeinen Privilegierung nach BauGesetzbuch bei Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen zu genehmigen sind, wenn dem keine öffentliche Belange entgegenstehen.
Es können also Windkraftanlagen weiter beantragt, genehmigt und gebaut werden. Allerdings geschieht dies derzeit ohne raumplaniersche Vorgaben und Steuerung, eben nur projektbezogen. Der durch das VGH-Urteil aktuell entstandene Mangel soll laut Metzger bis zum Jahresende beendet werden. Dann soll die Neuaufstellung des Teilregionalplans Energie abgeschlossen sein. Insoweit sind derzeit Kommunen hinsichtlich möglicher Bauleitplanung und Genehmigungen ein Stück weit auf sich gestellt.
Im Referat wurde veranschaulicht, nach welchen Kriterien und in welcher Verfahrensweise derzeit der Teilregionalplan Energie für Mittelhessen erarbeitet wird, welche Restriktionskriterien und welche Ausschlusskritierien zur Anwendung kommen. Mindestvoraussetzung ist eine Windgeschwindigkeit von 5,75 Meter/Sekunde. Ausschlusskriterium ist zum Beispiel ein Naturschutzgebiet. Angestrebt wird die Errichtung von Windfarmen als Bündelung mehrerer Windräder an einem Standort.
Ausführliche Informationen bietet das Portal für Erneuerbare Energien. Dort gibt es einen Potentialrechner, der für die einzelnen Kommunen eingesetzt werden kann. Die dort entnommen Grafik für den Landkreis Marburg-Biedenkopf veranschaulicht die überragende Bedeutung der Windenergie innerhalb der Erneuerbaren Energieträger. Es werden also vor allem viele Windräder gebaut werden in der Region, wenn es mit der Erneuerbaren Energiegewinnung voran gehen soll und wird.
Im zweiten Referat veranschaulichte Evelyn Bamberg, Projektleiterin bei Wagner & Co in Cölbe, Modelle und Möglichkeiten für eine materielle Bürgerbeteiligung. Von der einfachen Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), darin mit dem Problem des vollen Haftungsrisikos, über eine GmbH oder GmbH & Co KG, einer Energiegenossenschaft bis hin zum nur finanziell wirksamen Sparbrief reichen dabei die Möglichkeiten. Bamberger stellte ein Reihe erfolgreicher Projekte für Photovoltaikanlagen vor, für die jeweils zahlreiche beteiligte BürgerInnen gewonnen werden konnten.
Viel Anschaulichkeit und Hinweise für Wege zu einer Einbeziehung der BürgerInnen konnte Bürgermeisterin Birgit Richtberg, aus Romrod im Voglesberg, vermitteln. Zugleich als Vorsitzende der Energiegenossenschaft Vogelsberg berichtete Richtberg von mehreren erfolgreichen Projekten, bei denen die sich wachsender Teilnehmerzahlen erfreuende Energiegenossenschaft in der 3.000-Einwohner Kommune Initiator und Träger geworden ist. Unter der Zielstellung regionaler Wertschöpfung geht man dort den Weg der Privilegierung der eigenen Bürgerschaft erfolgreich, indem nur diese Mitglieder und Genossen werden können.
Partizipation als Chance ?
Die Veranstaltung des Landkreises geriet dank der profunden Informationen der Referenten zu einem lebendigen Forum, was sich in zahlreichen Diskussionsbeiträgen mit Fragen und Hinweisen ausdrückte. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es viel, nicht zu sagen auschließlich, positives Interesse an der Ausgestaltung der Energiewende im Landkreis gibt. Einigkeit bestand unübersehbar darin, dass die Menschen mitgenommen werden sollen und müssen. Dieser demokratisch-politische Ansatz korrespondiert dabei mit dem Tenor selbstgesteuert vorgehen zu wollen und dabei auch Finanzierung der Investitionen und den Betrieb lokal verankern zu wollen. Genossenschaften und andere Rechtsformen in Bürgerhand stehen hoch im Kurs. Fremdinvestoren sind unerwünscht.
Es geht nicht alleine um eine klimapolitisch gewollte Energiewende. Jedenfalls die Anwesenden an diesem Abend sehen Gestaltungs-, Betätigungs- und Teilhabefelder. Kein Raum also für Finanzmarktjongleuere und Spekulanten, die in der Wirtschaft ansonsten allzu oft tonanagebend sind. Bei allen Aufgabenstellungen und notwendiger langfristiger Orientierung, kann sich im Landkreis ein relevantes Betätigungsfeld für doppelte Teilhabe eröffnen – Bürgerinnen und Bürger als Mitentscheider und als wirtschaftliche Nutznießer. Das wäre und würde dann geradezu Alternative zum sonstigen Trend in der Zeit und Vorherrschaft des Finanzmarktkapitalismus.
Es wird sich zeigen, ob und wie weit es gelingt ein dergestaltiges ‚Occupy Energiewende‘ zu verwirklichen. Ansätze dafür gibt es nicht wenige und die Energiewende in der Region ist womöglich deutlich weiter als in der Berliner Politik. Dabei sind allerdings noch einige ‚Standortgefechte‘ auszutragen. Darüber konnte und sollte der Informationsabend nicht hinweg sehen. Aufgestellt werden müssen die Windräder, zahlreich – wenn es werden soll.
—> siehe auch Beitrag zum Bürgergespräch über Windkraft in Marburg