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Arbeitsbedingungen in Diakonie unter Druck: Ausgliederungen, Leiharbeit und zersplitterte Tariflandschaft

Marburg 16.7.2012 (pm/red) Sozialunternehmen der Diakonie haben in den vergangenen Jahren auf den gestiegenen Kosten- und Wettbewerbsdruck im Sozialbereich ähnlich reagiert wie ihre Wettbewerber. Um Lohnkosten zu reduzieren, sind bei Sozialeinrichtungen der evangelischen Kirche Ausgliederungen von Betrieben und Betriebsteilen „flächendeckend verbreitet“. Zu dieser Einschätzung kommt eine Forschergruppe in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten qualitativen, explorativen Studie. Auch Leiharbeit ist nach Ansicht der Forscher in diakonischen Einrichtungen eine „übliche Praxis“, die allerdings in letzter Zeit an Bedeutung verloren habe. Zudem setzten viele diakonische Sozialunternehmen ihre aus dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen abgeleitete arbeitsrechtliche Sonderstellung offensiv ein, konstatieren Prof. Heinz-Jürgen Dahme (Fachhochschule Magdeburg), Prof. Norbert Wohlfahrt (Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe), Dr. Gertrud Kühnlein und Dr. Anna Stefaniak (Sozialforschungsstelle der TU Dortmund). Der von den Kirchen praktizierte so genannte ‚Dritte Weg‘ werde „aktiv als Geschäfts- und Wettbewerbsstrategie genutzt…, um sich gegenüber sozialwirtschaftlichen Konkurrenten durchzusetzen“, schreiben die Forscher.

Der ‚Dritte Weg‘ legitimiert sich aus der Idee einer ‚christlichen Dienstgemeinschaft‘ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Löhne und Arbeitsbedingungen werden nicht durch Tarifverträge (‚Zweiter Weg‘) geregelt. Das übernehmen ‚Arbeitsrechtliche Kommissionen‘ in ‚Arbeitsvertraglichen Richtlinien‘ (AVR). Die Kommissionen sind paritätisch mit Vertretern der diakonischen Arbeitgeber und der Mitarbeiter besetzt. Der ‚Dritte Weg‘ gesteht den Beschäftigten jedoch kein Streikrecht zu, die Mitbestimmungsrechte der Mitarbeitervertretungen (MAV) in Kirche und Diakonie sind nach Analyse der Wissenschaftler in wesentlichen Fragen schwächer als die von Betriebs- oder Personalräten. Zudem besitzen die AVR für den einzelnen Beschäftigten eine niedrigere rechtliche Verbindlichkeit als Tarifverträge.

Die Wissenschaftler stützen ihre Analyse der Arbeitsbeziehungen in der Diakonie auf eine schriftliche Befragung von knapp 300 Mitarbeitervertretungen in diakonischen Einrichtungen und -verbänden sowie auf 40 Intensivinterviews mit Arbeitnehmervertretern und Diakonie-Experten. Ergänzend zogen die Forscher ältere Umfragen sowie die Selbstdarstellungen diakonischer Unternehmen heran, und sie analysierten die kontroverse innerkirchliche Diskussion zum Thema, beispielsweise auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom November 2011. Angesichts der sehr vielfältigen und dezentralen Strukturen – rund 27.000 selbständige diakonische Einrichtungen in Deutschland beschäftigen etwa 435.000 Menschen – kann die Untersuchung keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben. Sie gibt aber einen vertieften Einblick in einen Bereich, für den bisher nur wenige empirische Daten vorliegen.

Von Hilfsorganisation zum Unternehmen auf dem Sozialmarkt
Die Wissenschaftler leuchten auch den Hintergrund der Veränderungen in der Diakonie aus. Bis in die 1990er Jahre hinein galt im Gesundheits- und Sozialbereich das Prinzip der ‚Selbstkostendeckung‘. Danach wurden bei der Abrechnung einer Krankenhaus-, Pflege- oder Betreuungsleistung den jeweiligen Kostenträgern pauschalierte Selbstkosten der genutzten Gesundheits- oder Sozialeinrichtung in Rechnung gestellt. In mehreren Gesundheits- und Sozialreformen schaffte die Bundesregierung dieses Prinzip zugunsten einer stärker auf Effizienz und Wettbewerb ausgerichteten Ordnung ab. So entstand ein ‚Sozialmarkt‘, auf dem Sozialunternehmen verstärkt um Aufträge der öffentlichen Hand oder der Sozialversicherung konkurrieren. Die Träger setzte das unter einen erheblichen Kostendruck.

Flickenteppich bei der Bezahlung
In der Diakonie führte das zu entscheidenden Veränderungen bei der Bezahlung, so die Forschungsgruppe. Zuvor hätten sich Kirche und Diakonie in ihren AVR bundesweit weitgehend am Bundesangestelltentarif des Öffentlichen Dienstes orientiert. Diese recht einheitliche Struktur wurde in der Folge immer weiter aufgesplittert. Heute zählen die Forscher in den 22 evangelischen Landeskirchen und ihren diakonischen Werken allein 16 ‚Arbeitsrechtliche Kommissionen‘ und „knapp zwei Dutzend“ AVR. Viele davon lägen teils deutlich unter dem heutigen Niveau des öffentlichen Dienstes, konstatieren die Forscher.

Noch unübersichtlicher werde die Situation dadurch, dass Einrichtungen häufig auch die AVR anderer Landeskirchen anwenden können, wenn sie ihnen günstiger erscheinen. Zudem enthielten viele AVR weit gehende Öffnungsklauseln. Oder Einrichtungen böten Neueingestellten Individualarbeitsverträge an, welche nur einen Teil der Lohnleistungen oder längere Arbeitszeiten festschreiben, als in den eigentlich gültigen AVR vorgesehen sind. Anders als Betriebsräte hätten kirchliche Mitarbeitervertreter keinen rechtlichen Anspruch auf Prüfung solcher Individualverträge. Aus ihrer Beratungspraxis seien Arbeitnehmervertretern aber „diverse Einzelfälle bekannt“, schreiben die Forscher. Ihr Fazit: „Das Prinzip Gleiches Geld für gleiche Arbeit ist in der Diakonie bundesweit abgeschafft, in den regionalen Diakonischen Werken ebenfalls“.

Ausgliederung als Instrument
Zahlreiche befragte Mitarbeitervertreter nennen Ausgliederungen von Betriebsteilen als weiteres Instrument, mit dem diakonische Einrichtungen Lohnkosten senken. Ältere Umfragen von Gesamtvereinigungen der diakonischen Mitarbeitervertretungen führten zu dem Ergebnis, dass auf etwa 10.000 Beschäftigte in der Diakonie rund 800 Beschäftigte in ausgegründeten Betrieben kamen. Die Forschungsgruppe geht aber davon aus, dass dieses Zahlenverhältnis eher eine untere Grenze darstellt. Vor allem in den stationären Einrichtungen habe der Trend zu Ausgliederungen zugenommen. Diese würden „mittlerweile flächendeckend praktiziert“. Häufig würden Küchen- oder Reinigungspersonal in ‚Servicegesellschaften‘ überführt. Diese haben meist die Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH oder einer GmbH.

Vielfach seien diese Unternehmen einhunderprozentige Töchter diakonischer Einrichtungen, auch die Geschäftsführung sei oft identisch, berichten die Forscher. „Über welche kirchenrechtliche Konstruktion hier eine Zugehörigkeit zur Diakonie und damit zur verfassten Kirche bestritten werden kann, ist auch bei den von uns befragten Kirchenjuristen eine ungeklärte Frage.“ Gleichwohl seien die Arbeitsbedingungen und insbesondere die Bezahlung schlechter. Viele der Tochtergesellschaften hätten Betriebsräte, manche Haustarifverträge, sie verfügten mithin über Eigenschaften, die vom „Dritten Weg“ eigentlich gar nicht vorgesehen seien. Für die Diakonie stelle diese oft widersprüchliche Entwicklung in einer kirchenrechtlichen Grauzone eine besondere Herausforderung dar, schreiben die Forscher.

Leiharbeit übliche Praxis
Die Nutzung von Leiharbeit in diakonischen Einrichtungen bezeichnen die Wissenschaftler als „übliche Praxis“. Einige diakonische Sozialunternehmen unterhalten eigene Leiharbeitsunternehmen, so die Forscher. Die dort Beschäftigten erhielten niedrigere Löhne, die diakonischen Entleihbetriebe sparten durch diese Konstruktion zudem noch Mehrwertsteuer. Aus den Aussagen der Mitarbeitervertreter schließen die Wissenschaftler, dass Leiharbeit „in vielen Fällen nicht nur zur Abfederung vorübergehender Personalengpässe“ diene, „sondern vielmehr dem dauerhaften Ersetzen ’teurerer’ AVR-Mitarbeiter“.

Anders als Ausgliederungen und AVR-Abweichungen sei „ersetzende“ Leiharbeit in der Diakonie aber „kein flächendeckendes“ Phänomen. Zudem habe ihre Bedeutung abgenommen, berichten die Wissenschaftler. Das führen sie vor allem auf zwei Gründe zurück. Zum einen habe der Kirchengerichtshof der EKD im Oktober 2006 eine „auf Dauer angelegte Beschäftigung“ von Leiharbeitnehmern für unvereinbar mit dem „kirchlichen Grundsatz des Leitbildes von der Dienstgemeinschaft“ erklärt. Zum anderen mache die in letzter Zeit etwas verbesserte staatliche Regulierung der Leiharbeit dieses Instrument weniger attraktiv. Nach Einschätzung der befragten Mitarbeitervertreter wichen manche diakonische Einrichtungen in dieser Situation verstärkt auf schlecht bezahlte Werkverträge aus. Andere übertrugen die von Leiharbeitnehmern oder Externen erledigten Arbeiten wieder auf eigene Beschäftigte.

„Gelebte Dienstgemeinschaft existiert in der Praxis nicht“
Angesichts ihrer Untersuchungsergebnisse kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, „dass der Dritte Weg als gelebte Dienstgemeinschaft in der Praxis faktisch nicht existiert. Er folgt in der sozialunternehmerischen Wirklichkeit den Gesetzmäßigkeiten der gesamten Sozialbranche, und die ist von den herrschenden Refinanzierungsbedingungen bestimmt und nicht von Glaubens- bzw. Wertebesonderheiten. Große Teile der Mitarbeitervertretungen der Diakonie fordern deshalb den Übergang in den zweiten Weg und einen Tarifvertrag Soziales als Bremse der herrschenden Konkurrenzbedingungen.“

Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen in der Diakonie werden längst auch in kirchlichen Leitungsgremien kontrovers diskutiert, zeigen die Forscher: So erklärte die 11. Synode der EKD im November 2011, Missstände wie Ausgliederung mit Lohnsenkungen, ersetzende Leiharbeit und nicht hinnehmbare Niedriglöhne müssten „zu ernsthaften Konsequenzen wie Sanktionen führen.“ Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider warnte im März 2012 in einer Rede: „Das Arbeitsrecht der Evangelischen Kirche befindet sich in einem Stadium der Zersplitterung. Unterschiedliche kirchliche Tarife dürfen nicht zu einer innerdiakonischen Konkurrenzsituation mit ’Kannibalismusgefahr’ führen. Die Synode hat zu Recht gefordert, dass an die Stelle dieser Zersplitterung wieder ein einheitliches Recht treten muss.“

Anders als viele Mitarbeitervertreter setzten Kirchenparlament und Kirchenleitungen dabei aber nicht auf neue Tarifstrukturen, sondern auf eine Reform und letztlich Stärkung des ‚Dritte Weges‘, merken die Forscher kritisch an. So sollten die zentralen AVR des Diakonischen Werks der EKD zur ‚Leitwährung‘ für die Bezahlung in diakonischen Einrichtungen werden und die Mitarbeitervertretungen mehr Rechte bekommen.

Damit lassen sich aus Sicht der Forscher aber die beobachteten Probleme nicht lösen: „Unsere Analysen zeigen, dass es keine durch den Dritten Weg gesicherten Schranken der Flexibilisierung gibt.“ Zudem verstrickten sich Kirche und Diakonie in immer weitere Widersprüche, wenn man beispielsweise meine, „MAVs stärken zu müssen, gleichzeitig aber das Streikrecht und die betriebliche Mitbestimmung versagt.“ Eine forcierte ‚Verkirchlichung‘ der diakonischen und sozialen Dienste würde überdies „dem zunehmend europäisierten und privatisierten Sozialmarkt als Sonderweg gegenüberstehen“. Schließlich, so die Forscher, existierten die Diakonischen Werke in anderen europäischen Staaten „als christliche Sozialwerke ohne den Dritten Weg und nehmen dies – so zum Beispiel in Österreich – gar nicht als Defizit wahr.“

Autoren der Studie
Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Anna Stefaniak, Norbert Wohlfahrt: Leiharbeit und Ausgliederung in diakonischen Sozialunternehmen: Der „Dritte Weg“ zwischen normativem Anspruch und sozialwirtschaftlicher Realität. Endbericht eines Projekts für die Hans-Böckler-Stiftung, Juli 2012.

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