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Wohnen ist ein Menschenrecht – aber bezahlbarer Wohnraum in Marburg ist Mangelware

Marburg 20.8.2012 (red) Die Wohnungsfrage im Sinne des Vorhandenseins bezahlbaren Wohnraums in Marburg ist nicht alleine Problem von Wohnungssuchenden. Sie beschäftigt in zwischen die Politik, so in der letzten Stadtverordnetensitzung. Für den 14. September  lädt die ‚Lokale Agenda 21 Nachhaltige Stadtentwicklung‘ zu einer Veranstaltung zu diesem Thema, bei der Verantwortliche aus der Stadt das Problem diskutieren werden. Als Gastbeitrag von Jan Schalauske, Stadtverordneter der Fraktion Marburger Linke, veröffentlicht das Marburger. eine kommentierende Betrachtung.

Wohnung verzweifelt gesucht!

Wer sich in Marburg auf Wohnungssuche begeben muss, braucht starke Nerven. Jede/r kennt die Geschichten von der verzweifelten Jagd nach einer bezahlbaren Bleibe oder hat am eigenen Leib erfahren müssen, wie schwierig es ist, in unserer schönen Stadt eine passende und preiswerte Unterkunft zu finden.

Da sind beispielsweise junge Familien mit Kleinkind, die monatelang nach einer Drei-Zimmer-Wohnung suchen und doch nicht fündig werden. Der Vermieter vermietet lieber an Studierende, weil „die sind ja weniger anspruchsvoll und zahlen mehr“. Da sind Studierende, die zu Semesterbeginn stundenlange ‚WG-Castings‘ in Wohngemeinschaften (WG) über sich ergehen lassen müssen und für die es am Ende doch nur für ein Bett in der Notunterkunft des Studentenwerkes reicht. Die WG hat sich doch lieber für XY entschieden hat, weil „der ja schon älter ist“. Oder da sind Menschen mit kleinem Geldbeutel oder Erwerbslose die bei der Wohnungsbesichtigung spätestens nach der entblößenden Frage, wie viel sie denn verdienen würden, wissen, dass sie für den potentiellen Vermieter schon aus dem Rennen sind.

Alteingesessene versus Zugezogene, Erwerbslose versus Studierende, Wohngemeinschaften versus Familien. Viele Mieter/innengruppen müssen miteinander um den vorhandenen Wohnraum konkurrieren. Der entscheidende Grund dafür liegt auf der Hand: In Marburg mangelt es an allen Ecken und Enden an bezahlbarem Wohnraum. Aber nicht nur hier.

Neue Wohnungsnot in der Bundesrepublik

Zahlreiche ExpertInnen sind sich einig: In der BRD herrscht aktuell eine neue Wohnungsnot. Insbesondere in Großstädten, Ballungszentren und in Universitätsstädten mangelt es an bezahlbarem Wohnraum. Nach einer Studie des Hannoveraner Pestel-Instituts im Auftrag der Initiative „Impulse für den Wohnungsbau“ werden bis 2017 rund 800.000 neue Mietwohnungen bzw. etwa 130.000 Mietwohnungen pro Jahr benötigt, um den steigenden Bedarf annähernd zu decken. Das Fehlen bezahlbarer Wohnungen führt in angespannten Wohnungsmärkten zu enormen Mietpreissteigerungen. Der Anteil der Ausgaben für das Wohnen am Haushaltseinkommen wächst unaufhörlich. So hat der Deutsche Mieterbund errechnet, dass bei einem Nettoeinkommen von maximal 1500 Euro im Monat, was immerhin 44 Prozent aller Haushalte ausmacht, der Anteil der Wohnkosten an den Ausgaben bei deutlich über 40 Prozent liegt (SPON 08.08.2012). Haushalte mit geringem Einkommen werden an die Stadtränder oder in Gegenden mit unterdurchschnittlichem Standard verdrängt. Die Kluft zwischen Arm und Reich erhält einen räumlichen Ausdruck in der sozialen Spaltung in den Städten.

Die Ursachen für die neue Wohnungsnot sind vielfältig: In erster Linie führen die wachsende Armut, Erwerbslosigkeit und sinkende Reallohneinkommen dazu, dass immer mehr Menschen Probleme haben, ihre Mieten zu bezahlen, weil gleichzeitig die Warm- und Kaltmietausgaben deutlich gestiegen sind. Durch den gesellschaftlichen Wandel sinken zudem die Haushaltsgrößen und der Bedarf an kleineren bezahlbaren Wohnungen wächst.

Bundes- und Landesregierungen aller Couleur haben in den letzten Jahren eindeutig auf eine Vermarktlichung der Wohnungswirtschaft gesetzt. Auch im Bereich des Wohnens soll der Markt als zentrales Steuerungsinstrument alle Probleme lösen und nebenbei den Besitzer/innen großer Geldvermögen ordentliche Profite bescheren. Der Staat hat sich aus der Verantwortung für das Wohnungswesen zurückgezogen. Der soziale Wohnungsbau ist zum Erliegen gekommen. Laut einer kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag ist die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland seit 2002 um rund ein Drittel auf weniger als 1,7 Millionen zurückgegangen, d.h. es gibt rund 800.000 Sozialwohnungen weniger als 2002. In Hessen sind von 158.000 im Jahr 2002 noch 128.000 Sozialwohnungen übrig. Öffentliche Wohnungsbestände wurden vielfach verkauft. Die gewaltigen Mengen an privaten Geldvermögen haben in den unsteten Zeiten des krisengeschüttelten Finanzmarktkapitalismus den Immobilienbestand als lukrative Anlagemöglichkeit für die Renditemaximierung entdeckt.

Auch in Marburg: Der Markt soll es richten

Als Universitätsstadt gehört Marburg zu den Städten mit angespannten Wohnungsmärkten, in denen eine neue Wohnungsnot droht. Neben Erwerbslosen, Alleinerziehenden und Geringverdiener/innen ist in Marburg auch die große Gruppe von Studierenden auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Daraus folgt, dass die Quadratmeterpreise für Singlewohnungen laut Immowelt bei 10 Euro pro Quadratmeter (MNZ 08.06.2010) liegen und damit vergleichsweise teuer sind. Das Wohnen in Wohngemeinschaften ist deutlich günstiger. Hier besetzen Studierende ein Wohnsegment von kleineren Wohnungen ohne gehobenen Standard, auf welches auch sozialbenachteiligte und einkommensschwache Lebensgemeinschaften angewiesen sind. Das Studentenwerk Marburg bietet zwar rund 2100 bezahlbare Wohneinheiten für Studierende, kann damit aber weniger als zehn Prozent der Studierenden an der Uni Marburg versorgen (22.289 Studierende im WS 2011/2012 und die Zahl steigt). Da es in Marburg keine Wohnungsberichterstattung gibt, liegen über die Mieten in der Stadt kaum verlässliche Zahlen vor. 2010 lagen die durchschnittlichen Kaltmieten bei 8,50 Euro und damit hinter München aber vor Frankfurt am Main, so der Soziologe Werner Girgert in seinem beeindruckenden Vortrag „Wem gehört die Stadt“ auf Einladung der lokalen Agenda-21-Gruppe (siehe Bericht das-marburger.de 04.05.2012). Wer heute die einschlägigen Wohnungsanzeigen in der Lokalpresse, im Express oder den Onlineportalen studiert, die/der kommt nicht um den Eindruck herum, dass die Mietpreise explodieren.

In Marburg scheint es – wie in vielen anderen Städten – Verdrängungsphänomene zu geben. Seitdem die Nordstadt den Wünschen des Marburger Milliardärs und Mäzens Dr. Reinfried Pohl unterworfen wurde, sind die Mieten bei Neuvermietungen in diesem Teil der Stadt (im Volksmund auch Pohl-City genannt) deutlich gestiegen, laut Gutachterausschuss von 5,66 Euro 2003/2004 auf 8,67 Euro.

Das ‚Collegium Gentium‘, eine ‚Institution‘ studentischen Wohnens in Marburg, wurde aus fadenscheinigen Gründen abgewickelt. Neben einigen kleineren Projekten des Miethäuser-Syndikats (Am Grün, Ketzerbach) kämpfen heute vor allem die Bewohner/innen des Bettenhauses in der Robert-Koch-Straße unermüdlich für ein selbstbestimmtes, selbstverwaltetes Leben und Wohnen.

Wie reagieren Oberbürgermeister, Magistrat und rotgrüne Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung (StVV) auf diese wenig erfreulichen Prozesse? Eine lange Zeit hat die Koalition aus SPD und Grünen dieses Problem verdrängt oder stiefmütterlich behandelt. Nur vereinzelt wurde das Problem als solches benannt: „Wohnungsraum ist in Marburg derzeit sehr knapp. Die Mietpreise sind vergleichbar mit denen in Großstädten wie Frankfurt, München oder Köln, bedauert Bürgermeister Dr. Franz Kahle (Grüne).“ (OP 16.09.2011) oder „Wir haben eh‘ einen Mangel an günstigem Wohnraum in der Innenstadt“ Oberbürgermeister Egon Vaupel (OP 04.08.2012).

Der grüne Baudezernent Kahle hat insbesondere die freie Immobilienwirtschaft gefördert und nur auf marktwirtschaftliche Lösungen gesetzt. Entstanden sind unter der Schirmherrschaft des Marburger Baulöwen Schreyer die Projekte Campus I-III. Hierbei handelt es sich um gehobenen Wohnraum mit Kaltmieten bis zu 450 Euro (das-marburger.de 02.08.2012), die primär als sicherer Hafen für die Renditeinteressen von wohlhabenden Privatanlegern dienen. Als Zielgruppe werden zwar Studierende benannt, angesichts eines Bafög-Höchstsatzes von 670 Euro muss allerdings bezweifelt werden, dass Studierende ohne reiche Eltern sich eine solche Wohnung überhaupt leisten können. Überhaupt kommt die Firma Schreyer bei der Vergabe von Flächen für private Bauvorhaben in der Stadt häufig zum Zug. Eine Ausnahme bildet der Germanenplatz, wo auf einem vormals städtischen Grundstück, das DVAG-Tochterunternehmen UBG den Bauherren gibt.

Die GeWoBau, die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Marburg, hat sich in den letzten Jahren primär um Gewerbeimmobilien und andere städtische Bauvorhaben, wie beispielsweise der Bahnhofsumbau, gekümmert. Substantielle Investitionen in neue Wohnungen wurden nicht gesichtet.

Zukünftige Wohnanlage in Regie der Stadt Marburg in der Uferstraße.

Eine Ausnahme bildet das ehemalige EAM-Gebäude in der Uferstraße (später KJC), in welchem mit öffentlichen Mitteln für den sozialen Wohnungsbau 34 Wohneinheiten für 66 Mietparteien mit einer Gesamtwohnfläche von 1.784 Quadratmetern geschaffen werden sollen. Der Mietpreis soll bei einer Wohnungsgröße zwischen 40 und 72 Quadratmetern ca. 330 bis 700 Euro kalt betragen (Große Anfrage der Marburger Linken betreff ehem. KJC-Gebäude Uferstraße). Bei Quadratmeterpreisen von 8,20 Euro bis 9,65 Euro (kalt) muss die Frage erlaubt sein, wer hier die Zielgruppe des sozialen Wohnungsbaus darstellt und sich solche Mietpreise leisten kann. Die Mieten liegen damit über den Grenzwerten für die Kostenübernahme durch das Kreisjobcenter für Hartz-IV-Empfänger/innen. Wie diese Preise mit den gesetzlichen Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus in Einklang zu bringen sind, bleibt das Geheimnis von OB und Baudezernent. Das Land Hessen schreibt eine Mietpreisbindung deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete (15 Prozent weniger) vor.

Neuerdings sollen laut Oberbürgermeister Vaupel im Killian, dem ältesten erhaltenen Gebäude der Marburger Kernstadt, Wohnungen für Studierende entstehen. Eigentlich wollte die Stadt dort Büros unterbringen. Man darf gespannt sein, zu erfahren, warum diese Pläne geändert wurden und warum ausgerechnet in diesem Gebäude Studierende untergebracht werden sollen.

Eine andere Wohnungspolitik ist möglich

Ein Politikwechsel im Bereich „Wohnen“ ist auf Bundes- und Landesebene im Interesse der Mehrheit der Bürger/innen dringend geboten. Die Versorgung der Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum muss wieder eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hand werden. Der soziale Wohnungsbau ist wieder viel stärker zu fördern, Mietobergrenzen sind gesetzlich festzulegen und „Wohnen als Menschenrecht“ im Grundgesetz zu verankern. Analog Artikel 25 der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ der Vereinten Nationen (UN-Menschenrechts-Charta).

Die Wohnungsfrage kann aber nicht allein mit dem Verweis auf Berlin und Wiesbaden gelöst werden. Die Stadt Marburg ist gefordert, eine substantielle Offensive für bezahlbaren Wohnraum auf den Weg zu bringen.

Die sicherste Maßnahme bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und Wohnen wieder zu einem zentralen Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu machen, ist der Ausbau des Bestands an öffentlichen Wohnungen. Das Land Hessen fördert die Schaffung von Mietwohnraum für Haushalte, die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Für diese Maßnahmen ist eine Ko-Förderung durch die Kommune in Höhe von 10 000 Euro je Wohneinheit vorgesehen. Für fünf Millionen Euro, finanziert durch die Erhöhung der Gewerbesteuer, könnten also 500 neue Sozialwohnungen durch die GeWoBau mit Unterstützung des Landes geschaffen werden. Die großen Kapitalgesellschaften (etwa DVAG, Novartis/Behring) mit ihren dicken Gewinnen gehören ordentlich besteuert, um im Sinne der Allgemeinheit bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

Ein geeigneter Ort für die Errichtung von Sozialwohnungen wäre die Cappeler Straße, am Rande des VITOS-Klinik-Geländes. Die Marburger Linke hat einen entsprechenden Antrag in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht. Statt immer weitere Flächen den privaten Immobilienspekulanten zu überlassen, wie der Magistrat es bisher gemacht hat und auch für diese genannte Fläche plant, sollte die Stadt das Gelände erwerben und dort bezahlbare Wohnungen bauen lassen, z.B. durch die GeWoBau oder eine andere gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft.

Daneben ist eine regelmäßige Wohnungsberichterstattung, angesiedelt in der Stadtverwaltung, ausgestattet mit entsprechenden personellen Ressourcen und in Zusammenarbeit mit der Sozialberichterstatter/in, dringend geboten. Aktuell hängt eine große Anfrage der Marburger Linken zur Wohnsituation und der Tätigkeit der GeWoBau in der Warteschleife. Die Beantwortung soll sich nach Verlautbarungen des Magistrats wohl noch einige Zeit hinziehen. Augenscheinlich fehlt der Stadt, die sich immer einer niedrigen Beschäftigtenquote rühmt, das dazu nötige Personal.

Eine kommunalen Wohnungsberatungs- und vermittlungsstelle könnte auf der Grundlage von soliden Daten anschließend tätig werden und Mieter/innen wie Wohnungssuchende unterstützen.

Die Stadtverordnetenversammlung oder gar der Magistrat allein werden das Wohnungsproblem nicht lösen. Es braucht den Druck aus der Stadtgesellschaft, aus Initiativen und von der Straße, um das Thema stärker in das Bewusstsein zu rücken. Und hier bewegt sich was in unserer Stadt. Die lokale Agenda-Gruppe/AK Nachhaltige Stadtentwicklung lädt zu einer öffentlichen Diskussion im September, Bürgerinitiativen und die studentische Szene beratschlagen und führen kreative Aktionen durch, eine ‚Recht auf Stadt Bewegung‘ formiert sich.

Die alte linke Parole ‚Wer kämpft kann gewinnen‘, behält auch beim Thema Wohnen seine Gültigkeit, wie das erfolgreiche Engagement vieler Mieter/innen gegen den Verkauf der Nassauischen Heimstätte/Wohnstadt gezeigt hat. Die Landesregierung hat ihre Verkaufspläne vorerst wieder in die Schublade stecken müssen.

Nicht jedes Rad muss neu erfunden werden. Vor rund 100 Jahren forderte bereits Rosa Luxemburg: „daß die Stadt oder die Gemeinde städtischen Boden nicht privaten Spekulanten überläßt, die die arme Bevölkerung durch zu hohe Wohnungsmieten für elende und enge Wohnungen ausbeuten, sondern daß die Stadt im Gegenteil entsprechende Plätze aufkauft und auf eigene Kosten nach einem entsprechenden Plan gute und billige Wohnungen für die arbeitende Bevölkerung baut“ (Rosa Luxemburg: Was wollen wir? Kommentar zum Programm der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens, 1904).

Letztlich ist auch die Wohnungsfrage ein weiterer Beleg dafür, dass eine Gesellschaft, in der die Jagd nach Profit unser Leben beherrscht, endlich abgelöst gehört. An ihrer Stelle sollten wir eine Gesellschaft setzen, in der der Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt unseres Handelns stehen.

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