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Entschädigung für NS-Zwangsarbeit in vier Bänden wissenschaftlich dokumentiert

Marburg 4.9.2012 (pm/red) Mehr als rund 4,4 Milliarden Euro hat Deutschland zwischen 2001 und 2007 an 1,66 Millionen ehemalige NS-Zwangsarbeiter in 98 Ländern ausbezahlt. Das groß angelegte Projekt zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ unter der Leitung von Prof. Constantin Goschler von der Ruhr-Universität Bochum ist im Frühsommer 2012 abgeschlossen worden. Erwartete man anfangs, die Opfer würden das Geld eher als symbolische Anerkennung empfinden, so stellte sich nachträglich heraus, dass sie die Entschädigung unterschiedlich bewertet haben – je nach ökonomischer Lage und persönlicher Erinnerung an die Zwangsarbeit. Das ist eines der zentralen Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘. Das von der Stiftung EVZ finanziell geförderte groß angelegte Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Constantin Goschler (Zeitgeschichte, Ruhr-Universität Bochum) ist im Frühsommer 2012 abgeschlossen worden.

Vor allem Opfer im Osten entschädigt
Nach langwierigen internationalen Verhandlungen, die in der deutschen und internationalen Presse auf große Aufmerksamkeit stießen, wurde im Sommer 2000 in Berlin die Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ gegründet. Mit etwa 5,1 Milliarden Euro ausgestattet und jeweils zur Hälfte vom Bund und der deutschen Wirtschaft finanziert, sollte die Stiftung fast 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ehemaligen NS-Zwangsarbeitern und anderen Opfern des NS-Regimes eine materielle und symbolische Entschädigung zahlen. In einem komplexen Auszahlungsverfahren entschädigte die Stiftung zusammen mit sieben internationalen Partnerorganisationen neben jüdischen Sklavenarbeitern vor allem ehemalige Zwangsarbeiter in Ost- und Ostmitteleuropa, die bis dahin kaum Wiedergutmachung erhalten hatten.

Umfangreiche Archivrecherche und Interview von Zeitzeugen
Unmittelbar nach dem Abschluss der Zahlungen begann ein internationales Team von 20 Wissenschaftlern unter der Leitung von Prof. Constantin Goschler an der Ruhr-Universität Bochum die Umsetzung und die Folgen des Auszahlungsverfahrens zu erforschen. Sie durchsuchten umfangreiche Archivbestände beteiligter Organisationen in acht Ländern und führten zahlreiche Zeitzeugeninterviews. Die Resultate ihrer vierjährigen Forschungen zeigen, wie politische Verteilungskämpfe und bürokratische Organisationen mit komplexen Verfolgungserfahrungen und konkurrierenden Gerechtigkeitsansprüchen umgegangen sind, wie die Empfänger finanzielle Leistungen bewertet haben und wie sie zugleich die europäische Erinnerungslandschaft umformten.

Bände thematisch breit angelegt
Die Bände widmen sich dem Umgang mit der Zwangsarbeit in Deutschland und der Arbeit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (Band 1), der Praxis der weltweit tätigen Jewish Claims Conference und der International Organization for Migration (Band 2), den Auszahlungen und ihren Folgen in Polen und Tschechien (Band 3), sowie der Zwangsarbeiterentschädigung und Erinnerungskultur in den postsowjetischen Gesellschaften (Band 4).

Vermeintliche ‚Verräter‘ endlich entschädigt
Die mit der Auszahlung befassten Organisationen kämpften mit einem komplexen Gefüge bürokratischer Traditionen, unterschiedlicher Erwartungen und Erinnerungskulturen und divergierender Systeme der Opferversorgung. Die Stiftung EVZ stand in einem schwierigen Spannungsfeld: Sie sollte ein möglichst einfaches Verfahren für die betagten Antragsteller durchführen und dennoch dem Ziel der Bundesregierung gerecht werden, die Wiedergutmachung endgültig abzuschließen und der deutschen Wirtschaft Rechtssicherheit vor weiteren Klagen zu verschaffen. In Russland und anderen postsowjetischen Staaten mussten die beteiligten Partnerorganisationen damit umzugehen lernen, die international vereinbarten Entschädigungskategorien und Opferhierarchien im eigenen Land umzusetzen, obwohl sie in Teilen der nationalen und individuellen Erinnerung sowie bisherigen Praktiken widersprachen. So waren zum Beispiel in der Sowjetunion die nach 1945 aus Deutschland zurückgekehrten Zwangsarbeiter als Verräter abgestempelt worden. Dass sie nun mit deutschem Geld für ihr Opfer entschädigt werden sollten, widersprach der sowjetischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg, die bis in die 2000er Jahre gültig war. So öffnet dieses Projekt gerade die Augen für die nicht-intendierten Nebenwirkungen eines transnationalen Entschädigungsprozesses.

Persönliche Erfahrung und Erinnerung wichtig
Eines der zentralen Ergebnisse des Bochumer Forschungsprojekts betrifft die Bedeutung der Auszahlungen aus Sicht der einzelnen Antragsteller. Ohne dass diese Frage bisher eingehend erforscht worden wäre, verwies man in der Diskussion zur materiellen Bewältigung historischen Unrechts vor allem darauf, dass die Bedeutung der Entschädigung darin bestehe, dass die ehemals Verfolgten symbolische Anerkennung erführen. Das Bochumer Projekt kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, dass von einer linearen Wirkung der Zahlungen keine Rede sein kann. Auf individueller Ebene ist die Bedeutung von Entschädigung in hohem Maße abhängig von einer Vielzahl unterschiedlicher Variablen wie der Verfolgungserfahrung und der sozialen Lage der Betroffenen, ihrem politischen, ökonomischen und erinnerungskulturellen Umfeld sowie nicht zuletzt ihren Erfahrungen mit der deutschen Wiedergutmachung und anderen Aufarbeitungsbemühungen.

Buchtitel
Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« und ihre Partnerorganisationen . Herausgegeben von Constantin Goschler in Zusammenarbeit mit José Brunner, Krzysztof Ruchniewicz und Philipp Ther, 4 Bände, Göttingen (Wallstein) 2012.

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