Vier Schritte zur Lösung der Krise im Euroraum – Forscher bemängeln das Fehlen richtiger Strategie
Marburg 19.10.2012 (pm/red) Die Krise im Euroraum ist nur mit allen Mitgliedsländern der Währungsunion und ohne weitere Schuldenschnitte lösbar. Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank (EZB), notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Euro-Krisenländern zu kaufen, die Empfehlung des IWF, die Konsolidierungsziele zeitlich zu strecken und die Erklärung des Bundesfinanzministers, keinen Staatsbankrott Griechenlands zuzulassen, weisen daher in die richtige Richtung. Allerdings beschränken sich Regierungen und europäische Institutionen trotz dieser Fortschritte weiterhin auf eine Minimalstrategie, die sich zu stark auf einen konjunkturschädlichen Sparkurs konzentriert. So sei bestenfalls eine zeitweilige Stabilisierung möglich, aber keine dauerhafte Überwindung der Krise. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Untersuchung, in der das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung eine Zwischenbilanz der Eurokrise zieht.
„Zweieinhalb Jahre nach Ausbruch der Krise bietet sich ein durchwachsenes Bild: Die wirtschaftliche Entwicklung in den Krisenländern ist als Folge der überzogen harten Sparpolitik desaströs und belastet zunehmend den gesamten Währungsraum. Politik und Zentralbank bewegen sich immerhin langsam in die richtige Richtung, aber Rückfälle sind jederzeit möglich.“, sagt Prof. Gustav Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMK. „Die EZB hat endlich ihre Rolle als derzeit wichtigster Pfeiler der Währungsunion übernommen. Der IWF und sogar die Bundesregierung scheinen von ihrer kurzsichtigen Austeritätsfixierung abzulassen, mit der sich viele Länder des Euroraums in die Rezession gespart haben. Die Erkenntnis breitet sich aus, dass wir solides Wachstum brauchen, um Europas Staatsfinanzen zu sanieren.“ Das unterstrichen auch neue Studien des IWF. „ Darauf sollte man aufbauen. Aber der grundsätzliche Paradigmenwechsel steht noch aus“, so Horn. „Nach wie vor dominieren Lesarten, welche die Krise sehr einseitig mit dem angeblich unsoliden Ausgabeverhalten der „Südländer“ erklären. Das geht am Kern des Problems vorbei. In dieser Situation irrlichtern immer wieder brandgefährliche Forderungen nach einem weiteren Schuldenschnitt durch die öffentliche Debatte oder gar nach Möglichkeiten, Euroländer Pleite gehen zu lassen.“
Es sei zwar denkbar, dass die aktuelle Strategie „infolge eng begrenzter Rettungsaktionen der Regierungen und der Zentralbank über Jahre hinweg Bestand hat“, schreiben die Wissenschaftler. Angesichts „mangelnden Vertrauens und übermäßiger Konsolidierungsmaßnahmen“, die das Wachstum in Europa schädigten, sei sie jedoch letztendlich nicht zielführend. Die tiefer liegenden Ursachen, fundamentale Probleme in der institutionellen Architektur der Währungsunion, würden von der europäischen Politik noch kaum thematisiert. Die Wirtschaftsforscher sehen aber gute Chancen, dass der Euroraum dauerhaft aus der Krise herauswachsen kann, wenn der erforderliche Strategiewechsel umgesetzt wird. Sie haben ein Konzept für Wege aus der Vertrauenskrise im Euroraum erarbeitet.
Kurzfristig schlagen sie vor:
1. Bereitschaft der Europäischen Zentralbank (EZB), unbegrenzt zu intervenieren. Hier hat die Notenbank Anfang September bereits den entscheidenden Schritt getan. Sie erklärte, unter bestimmten Umständen unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenländern kaufen zu wollen, um die Renditen dieser Wertpapiere auf ein erträgliches Niveau zurückzuführen.
2. Bekenntnis der Regierungen aller Euroländer, die Krise gemeinsam zu bewältigen. Das heißt im Klartext: Kein Staat muss aus dem Euro ausscheiden, auch Griechenland nicht. Genauso wenig wird es weitere Schuldenschnitte geben. Damit zögen die Europäer die richtigen Schlussfolgerungen aus den negativen Erfahrungen mit dem griechischen Schuldenschnitt, betonen die Forscher. Dieser habe einen zweiten ‚Lehman-Moment‘ für den Euroraum dargestellt. Durch die massiv steigende Verunsicherung an den Finanzmärkten gerieten auch die Staatsanleihen von Spanien oder Italien erheblich unter Druck – und damit auch die Banken in diesen Ländern. „Eine Art von Schuldentilgungsfonds wäre ein praktikabler Weg, diese Zielsetzung institutionell umzusetzen“, so die Forscher. Denn bei einer gemeinschaftlichen Garantie aller Schulden über eine Schuldenquote von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung eines Eurolands hinaus würden sich die Zinsaufschläge für etliche Staaten stark zurückbilden.
3. Regeln nicht nur für den Abbau von Staatsschulden, sondern auch von Leistungsbilanzungleichgewichten. Der von den Euroländern Anfang März 2012 beschlossene Fiskalpakt fokussiert auf die Staatsverschuldung der Mitgliedstaaten. „Wichtiger als die Höhe der maximalen Schuldenstandsquote ist in diesem Zusammenhang, wie diese fiskalpolitisch zu erreichen ist“, schreiben die Forscher. Die jetzigen Regeln trieben die Krisenstaaten immer weiter in die Rezession, warnen sie. Es wäre besser, einen Ausgabenpfad festzulegen und einen Teil der Steuereinnahmen aus einer konjunkturabhängigen Steuerart, beispielsweise der Einkommensteuer, für die Rückführung der Schulden vorzusehen.
Zudem „liegen der gegenwärtigen Krise nicht primär die hohe Staatsverschuldung zugrunde, sondern Leistungsbilanzungleichgewichte“, so die Analyse der Wirtschaftswissenschaftler. Stark unterschiedliche Leistungsbilanzsalden deuteten unabhängig vom Vorzeichen auf sich anbahnende Zahlungsbilanzprobleme hin: auf eine übermäßige Verschuldung des Privatsektors oder des Staats im Ausland beziehungsweise auf einen übermäßigen Aufbau von Forderungen gegenüber dem Ausland.
Da die Geldpolitik Eurolands im Grundsatz einheitlich ist, ist zur Bewältigung der länderspezifischen Probleme in erster Linie die Fiskalpolitik gefordert, erläutert das IMK. In Defizitländern wie Griechenland oder Spanien müsse die Fiskalpolitik restriktiver ausgerichtet werden, wenn sich keine Besserung der Außenhandelsposition einstellt – zum Beispiel über höhere Steuern.
„Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen müssen hingegen ihre Binnennachfrage steigern – auch unter Einsatz der Fiskalpolitik.“ Eine Möglichkeit wären verstärkte Investitionen des Staates. Das würde das Wachstum im Inland und den Export der Krisenländer anregen. „Kehrt sich das Wachstumsgefälle im Euroraum dergestalt um, so ist eine Überwindung der Ungleichgewichte im Euroraum auch ohne eine Verletzung des Inflationsziels der EZB möglich“, prognostiziert das IMK.
Für die Zukunft empfehlen die Ökonomen einen Sanktionsmechanismus, um gefährliche Leistungsbilanzungleichgewichte zu verhindern: Für Staaten, die gegen die Ausgleichsstrategie verstoßen, würden Strafzahlungen fällig, beispielsweise in einen der Strukturfonds der EU. Anders als bisher müssten Sanktionen symmetrisch konstruiert sein, sie gälten also gleichermaßen für Überschuss- wie für Defizitländer.
4. Zeitliche Streckung der Sparanstrengungen. Für alle Länder gelte, „dass die Sparmaßnahmen zeitlich gestreckt werden müssen“, schreiben die Forscher. Die hohe negative Wirkung von Ausgabenkürzungen während der Krise führe derzeit in eine Sackgasse. Vorübergehend sollten die Steuern auf Spitzeneinkommen im gesamten Euroraum heraufgesetzt werden, um die in der internationalen Finanzkrise aufgebaute zusätzliche Verschuldung zu reduzieren.
Langfristig plädieren die Ökonomen dafür, Anpassungsmechanismen für die Zeit nach der Krise zu beschließen. In deren Zentrum stehe die Maxime: Eine Währungsunion ist eine Vereinbarung über ein gemeinsames Inflationsziel. Auf mittlere Sicht schlägt das IMK eine Lösung vor, bei der die Souveränität im Wesentlichen bei den einzelnen Mitgliedstaaten verbleibt. Die Entscheidungskompetenzen weiter zu zentralisieren wäre zwar eine Option, mit der das Ziel einer stabilen Währungsunion erreicht werden könnte. Der politische Prozess wäre aber wahrscheinlich langwierig. Daher sollten zunächst die nationalen Regierungen für die Einhaltung des Inflationsziels verantwortlich sein.
IMK sieht Politikbereiche in einer klaren Hierarchie und Abfolge
Die Lohnpolitik wie auch die Wettbewerbspolitik sind der Fiskalpolitik vorgelagert. So bergen beispielsweise zu starke Lohnsteigerungen die Gefahr, dass das Inflationsziel überschritten, zu schwache, dass es unterschritten wird. „Beides ist gleichermaßen schädlich“, betonen die Wirtschaftsforscher. Ebenso könne ein mangelhaft ausgeprägter Wettbewerb eine Gewinninflation hervorrufen.
Drohten die Entwicklungen bei Löhnen und Gewinnen das Inflationsziel zu verletzen, sollte die nationale Fiskalpolitik gegensteuern. „Sind die Lohnabschlüsse zu niedrig, um das Inflationsziel einzuhalten, muss sie expansiv sein; bei zu hohen Abschlüssen restriktiv.“ Mit welchen Maßnahmen die Fiskalpolitik reagiere, sei aber Sache der nationalen Regierungen.
Auch eine national differenzierte Form der Geldpolitik könne zur Stabilisierung des Euroraums beitragen, erläutern die Wissenschaftler. Im Vorfeld der aktuellen Eurokrise floss Kapital vor allem aus Deutschland in Richtung Spanien, Irland und Portugal und verstärkte den dortigen wirtschaftlichen Boom. Auslöser waren scheinbar günstige Renditechancen vor allem bei Immobilien und im Finanzsektor. Hier könne – auch in einer Währungsunion – eine differenzierte Geldpolitik ansetzen: „Sie kann beispielsweise durch differenzierte Mindestreserveanforderungen die Kreditvergabe in einzelnen Euroländern gezielt fördern oder drosseln.“ Eine überschäumende Nachfrage, die zu überhöhten Inflationsraten führt, ließe sich so dämpfen.
Mit diesem Politikmix aus stabilitätsorientierter Fiskalpolitik und flankierender Geld- und Lohnpolitik sei eine im Kern dezentral orientierte Währungsunion möglich, so das IMK. Dennoch seien einige grundlegende institutionelle Veränderungen unumgänglich. So sollte ein Europäischer Währungsfonds (EWF) die Abweichungen der Leistungsbilanzen überwachen und Vorschläge für eine adäquate Reaktion der Politik machen. Dessen Sanktionen sollten automatisch greifen – aber so niedrigschwellig ausgestaltet sein, dass der Bestand des Euroraums nicht gefährdet ist. Ideal dafür sei die Vorgabe, eine Steuer oder Abgabe zu erhöhen oder zu senken.
Quelle: Gustav Horn, Fabian Lindner, Silke Tober, Andrew Watt: Quo vadis Krise? Zwischenbilanz und Konzept für einen stabilen Euroraum, IMK Report Nr. 75, Oktober 2012.
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