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Forschungsergebnisse zur Heimerziehung werden in Ausstellung präsentiert um Erinnerung wach zu halten

Marburg 5.12.2012 (pm/red) Kinder und Jugendliche, die zwischen 1953 und 1973 in Heimen des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen lebten, waren körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt.

Das belegen Interviews mit Betroffenen im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Kassel. Ein Jahr lang hat sich eine Forschungsgruppe unter Leitung der Soziologin Prof. Mechthild Bereswill und der Juristin Prof. Theresia Höynck mit der Situation in den Kinder- und Jugendheimen des LWV beschäftigt.

Gemeinsam mit der Kunsthochschule Kassel entwickelte das interdisziplinäre Team eine Ausstellung, die Forschungsergebnisse und Erfahrungen ehemaliger Heimkinder und Mitarbeiter der Einrichtungen sichtbar macht.

„Es ist wichtig, die Erinnerung wach zu halten“, betonte Andreas Jürgens, Erster Beigeordneter des LWV Hessen. „Gerade mit Blick auf das 60-jährige Bestehen des Verbandes im kommenden Jahr wollen wir aufklären über die Zeit der 1950er und 1960er Jahre und hierdurch die Verantwortung des LWV wahrnehmen.“

Unterwerfung und Willkür
1.010 Fallakten (von rund 14.000) wurden von dem Forschungsteam des Fachbereichs Humanwissenschaften der Universität mit einem umfangreichen Erhebungsbogen ausgewertet sowie 15 Zeitzeugen befragt, die in den Heimen gelebt oder gearbeitet haben, in der Verwaltung beschäftigt waren oder öffentlich Kritik übten. In ihrer Bilanz kamen die Wissenschaftlerinnen zu der Einschätzung, die Fürsorgeerziehung in den Heimen habe sich an Vorstellungen von Ordnung und Unterwerfung und nicht an subjektiven Rechten und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen orientiert.

Forschungsteam fand in den Akten eine viele Belege
So finden sich in den Fallakten kaum Hinweise auf Beteiligungsprozesse und auf formale Anhörungen.
Hinweise auf systematische Planungen des Aufenthalts und individuelle Perspektiven fehlen.
Familienmitglieder und Angehörige wurden nicht einbezogen.

  • Beschwerden gegen Beschlüsse gab es selten und die wenigen wurden in der Mehrzahl abgelehnt.
  • Besuche und Urlaube wurden als Störung des Heimalltags und des Erziehungsprozesses betrachtet und vielfach als Sanktionsmittel eingesetzt.
  • Eine Rückkehr in die Familie oder andere soziale Kontexte wurden nicht vorbereitet.
  • Aus den Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geht hervor, dass diese die Einweisung und andere Maßnahmen überwiegend als nicht nachvollziehbar und willkürlich erinnern. Sowohl ehemalige Heimkinder als auch Mitarbeiter berichteten von Ohnmachtserfahrungen und dem Gefühl, bürokratisch verwaltet zu werden.

Psychische und körperliche Gewalt
Sie berichteten außerdem von Hierarchien, autoritären Umgangsformen und direkter psychischer sowie körperlicher Gewalt. Dazu gehörten:

  • Appelle, Essensentzug, Kaltduschen, sinnlose Arbeiten und Isolation,
  • für geschlossene Institutionen typische Mechanismen der gegenseitigen Auf- und Abwertung in den Gruppen: Rangordnungen wurden durch grausame Aufnahmerituale abgesichert und von Erzieherinnen und Erziehern durch Wegsehen geduldet,
  • strukturelle Gewalt durch nicht nachvollziehbare medizinische (u. a. gynäkologische) Unter­suchungen, die bei der Aufnahme wie auch nach jeder Entweichung stattfanden oder Quarantäne als Teil der Aufnahmeprozedur.

„Die gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen waren in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft allgemein stark auf die Erzeugung von Anpassung und Ordnung ausgerichtet“, sagte Prof. Höynck. „Dies prägte auch die aus heutiger Sicht unerträglichen Sanktionen gegenüber Kindern und Jugendlichen in den Erziehungsheimen.“ Für viele bedeute der Heimaufenthalt bis heute ein Stigmum. Dies führe für einige Menschen zu einem Leben in Angst davor, dass ihre Vergangenheit als Heimkind entdeckt und von ihrem Umfeld abgelehnt und abgewertet werden könnte.

„Viele der Interviewten können die damalige Einweisung bis zum heutigen Tag nicht verstehen oder auch nicht einordnen“, sagte Bereswill. In den Interviews sei in keinem einzigen Fall von positiven, unterstützenden oder gar freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Personal und den Kindern und Jugendlichen die Rede. „Die Jugendlichen hatten niemanden, mit dem sie geschützt über ihre Fragen und Erlebnisse sprechen konnten, und diese Sprachlosigkeit setzt sich teilweise bis heute fort.“ Der Abschlussbericht des Forschungsprojekts wird Ende 2012 vorgelegt.

Ausstellung in Kassel und Wiesbaden
Prof. Gabriele Franziska Götz und Prof. Joel Baumann von der Kunsthochschule Kassel waren schon früh in das Forschungsprojekt eingebunden und haben eine Wanderausstellung entwickelt. Die Ausstellung visualisiert auf vier Projektionsflächen Zeitgeist, Alltagskultur und Ordnungsvorstellungen der 1950er, 1960er und frühen 1970er Jahre, die Architektur der Heime, die unterschiedlichen Perspektiven von Kindern, Jugendlichen, Heimpersonal und Bürokratie sowie Aktenlogik und den damaligen Sprachgebrauch. Zu allen Aspekten sind Ausschnitte aus den Zeitzeugeninterviews zu lesen und hören. Die Ausstellung lädt dazu ein, sich mit einer Phase der jüngsten deutschen Geschichte auseinander zu setzen.

Die Ausstellung Heimerziehung 1953 bis 1973 in Einrichtungen des LWV Hessen wird vom 4. bis zum 21. Dezember im Ständehaus in Kassel gezeigt (montags bis samstags, 10 bis 17 Uhr). Vom 20. bis zum 24. Mai wird sie im Hessischen Landtag in Wiesbaden zu sehen sein.

Hintergrund
Die Untersuchung umfasst den Zeitraum von der Gründung des LWV Hessen im Mai 1953 bis zum Einsetzen der Heimreformen im Jahr 1973. Mit seiner Gründung hat der Verband neun Heime übernommen, in denen zu jener Zeit rund 1.700 Zöglinge lebten. Es waren

  • das Heilerziehungsheim Kalmenhof in Idstein, in dem auch geistig behinderte Menschen betreut wurden,
  • das Jugendheim Wabern,
  • das Mädchenheim Fuldatal in Guxhagen,
  • das Jugendheim Staffelberg,
  • das Jugendheim Homberg,
  • das Jugendheim Idstein,
  • das Jugendheim Steinmühle in Obererlenbach,
  • das Jugendheim Weilmünster und
  • das Jugendheim Lahneck in Buchenau/Lahn.

Der LWV war Träger, Kostenträger und Fürsorgeerziehungsbehörde. Die Verbandsversammlung, das Parlament des LWV, hat 2006 eine Resolution verabschiedet, in der sich der Verband bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigt hat.

2006 veranstaltete der LWV mit der Internationalen Gesellschaft für Erzieherische Hilfen (IGfH) und dem Spiegel-Buchverlag eine Fachtagung zum Thema Heimerziehung. 2009 folgte eine Fachtagung mit der IGfH zum Thema Heimkampagne und -reform.

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