Marburger Doppelspiel zum Wohnungsbau – Verschleierung im Angesicht deutlicher Wohnungsnot von Menschen mit Handikap s
Marburg 7.12.2012 (red) Viele reden von Inklusion, doch in Marburg wird sie verhindert. Zur Inklusion von benachteiligten Menschen (früher als ‚Behinderte‘ bezeichnet, heute besser Menschen mit Handicaps) gehört zuallererst die Verfügung über angemessenen Wohnraum, etwa in Gestalt von Barrierefreiheit. In den letzten Monaten konnte in Marburg darüber eine Diskussion entzündet werden. Wesentlich beigetragen hat eine Veranstaltung der Lokalen Agendagruppe im September. Die Wohnungsnot in Marburg wurde offenbar und kann von niemanden mehr vertuscht werden. Das hat jetzt auch die Rot-Grüne Rathauskoalition aufgeschreckt. So gab es vor zwei Tagen in der Tageszeitung von den Fraktionsvorsitzenden Dietmar Göttling (GRÜNE) und Steffen Rink (SPD) Neues zu lesen: “ Mit zusätzlichen 1,5 Millionen Euro will die Koalition Förderanreize für zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum schaffen.“ Diese Mittel müssen, weil im Haushalt für 2013 nicht enthalten, zusätzlich eingebracht werden. Es gibt also politische Bewegung. Zuvor ist jedoch in Marburg der Öffentlichkeit vorgegaukelt worden, man schaffe bereits neuen, zusätzlichen Wohnraum in der Uferstraße. Das ist inzwischen als politische Lüge entlarvt. Allen Verantwortlichen war lange bekannt, dass die dort entstehenden Wohnungen als Ersatz benötigt werden für Wohnraum, der woanders vernichtet wird. Um Platz für den Neubau der Universitätsbibliothek zu schaffen, wird ein Schwesterwohnheim im Frühjahr 2013 abgebrochen. Dessen BewohnerInnen sollen dann in die Uferstraße umziehen. Mit dem fragwürdigen Geschehen hinter den Kulissen beschäftigt sich dieser Gastbeitrag von Bernd Gökeler:
Bereits im August oder September 2011 hat sich eine Gruppe von 3 Personen (darunter 2 Ehrenamtliche) an die Baupläne zum Umbau des EAM-Gebäudes gesetzt, um die postulierte Barrierefreiheit zu überprüfen und konstruktive Vorschläge zu erarbeiten. Es konnte von barrierefrei oder barrierearm keine Rede sein, lediglich der Zugang in das Gebäude ist durch den ohnehin bereits vorhandenen Aufzug und eine Rampe barrierefrei gewährleistet. So gab es Türbreiten in den Wohnungen von 70cm, Küche und Bad sind ‚Schläuche‘, also mit viel zu geringer Bewegungsfreiheit ausgestattet, die Wohnungseingangstür kann von einem Rollifahrer nur geschlossen werden, wenn er nach ‚Eintritt‘ in die Wohnung in ein Zimmer fährt, um dort zu drehen und dann zurückkommt um die Tür zu schließen. Selbst Flurbreiten lagen bei 70 cm Breite.
Wir als Arbeitsgruppe haben relativ leicht und kostengünstig realisierbare Vorschläge an Abteilungsleiter Matthias Knoche von der GeWoBau geschickt. Danach wäre es ohne all zu große baulichen Änderungen möglich, 5 Wohnungen je Etage barrierearm bis barrierefrei zu gestalten. Jeweils die Wohnungen an den Giebelseiten und die Wohnung in der Mitte des Gebäudes boten sich dazu an. Herr Knoche antwortete am 17.9.2011, dass die Wohneinheiten dem allgemeinen Wohnungsmarkt zufließen würden. Am 28.09.2011 fragte Knoche nach, ob wir den von uns angemeldeten Bedarf an barrierefreien/armen Wohnraum mit konkreter Benennung von Mietern untermauern könnten.
Dem sind wir nachgekommen, auch Mitglieder aus unserer Multiple-Sklerose-Selbsthilfegruppe haben sich darum beworben. In der Folge hat uns Herr Knoche dann mitgeteilt, dass die Wohnungen doch nicht dem allgemeinen Markt zur Verfügung stünden, sondern dass das Schwesternwohnheim aus der Deutschhausstraße dorthin umziehen werde.
In der GeWoBau Aktuell des Juli 2012 gab es dann später und für uns überraschend zu lesen, dass die Wohnungen den allgemeinen Wohnungsmarkt zur Verfügung stehen und sich Interessenten bewerben könnten. Das haben Mitglieder unserer Multiple Sklerose Selbsthilfegruppe getan. Im November sollten erste Besichtigungen stattfinden und voraussichtlich im April 2013 wäre der Einzug.
Bei der Agenda-Veranstaltung zum Thema ‚Sozialer Wohnungsbau‘ am 14. September 2012 erklärte Herr Oberbürgermeister Vaupel dem staunenden Publikum, in dessen Reihen auch Stadtverordnete saßen, dass die Wohnungen für Studenten gedacht seien, weil nur Studierende über eine Wohngemeinschaft in der Lage seien die hohen Mieten zu finanzieren. 5 Wohnungen im ganzen Gebäude sollten mit einem Gesamtaufwenad von insgesamt 50.000 Euro barrierearm erschlossen werden.
Späte ‚Offenbarung‘ der Ersatzbaulösung im November
In einem Artikel der Oberhessischen Presse von Anfang November 2012 war zu lesen, dass die Wohnungen im EAM-Gebäude bis 2015 als Schwesternwohnheim genutzt werden sollen. Außerdem erfährt der geneigte Leser, dass es bisher noch nicht einmal einen Standort für ein neues Schwesternwohnheim gibt. Bauträger für für den überhaupt erst noch zu planenden Neubau soll demnach die GeWoBau werden.
- Wenn es noch nicht einmal einen Standort für ein neues Schwesternwohnheim gibt, der Abbruch/Umnutzung des alten Wohnheimes aber längst beschlossene Sache ist, dann war den Verantwortlichen doch die ganze Zeit klar, das das EAM-Gebäude nur diesem einen Zwecke dienen soll.
- Wenn also alle Beteiligten dies wussten, warum dann die Verschleierung der zukünftigen Nutzung?
- Warum sollte dann erst, bereits 2011, eine Liste von Interessenten eingereicht werden, übrigens Menschen die aufgrund Ihrer Behinderungen dringend auf diese zentrumsnahen Wohnungen angewiesen sind?
- Warum sollten sich laut GeWoBau-Zeitung vom Juli 2012 Mietinteressenten für diese Wohnungen bewerben, was auch Behinderte getan haben? Warum dieser Zickzackkurs auf dem Rücken von Menschen mit Behinderung?
Folgender Link des VDK führt zur Information, dass etwa 2,5 Millionen mobilitäts-eingeschränkte Menschen deutschlandweit in Wohnungen mit
erheblichen Barrieren wohnen.
In der Stadt Marburg, in der zumindest im Zentrum die alte Bausubstanz dominiert und selbst der
größere Teil der Neubauten der letzten Jahre nicht mit Aufzug ausgestattet wurde, ist das Problem überproportional gegeben.
Wenn schon die Frage des Wohnens nicht erträglich (und bezahlbar) gelöst wird, können wir auf die hochtrabenden Ziele der UN-Konvention zur Inklusion von Behinderten nicht einmal ansatzweise vertrauen. Die Politik auch und gerade in einer Stadt wie Marburg, die im letzten Jahr als besonders behindertenfreundlich sich hat auszeichnen und feiern lassen, sollte bei diesem Thema endlich einen geradlinigen Weg zur Verbesserung der unerträglichen Lage einschlagen.
Jetzt ist der bestmögliche Zeitpunkt dafür zu handeln! Die SPD hat in Wiesbaden einen entsprechenden Vorstoß gewagt, Marburg sollte sich in die Rolle des Vorreiters begeben, im Schulterschluss von Politik und Wohnbaugesellschaften, insbesondere auch der städtischen GeWoBau.
Der Rollifahrer aus dem Film ‚Ziemlich Beste Freunde‘, Philippe Pozzo di Borgo, brachte es in einem Interview auf den Punkt:
„Wenn wir die
Behinderten mitten in der Gesellschaft leben lassen, dann wird die Welt friedlicher.“
Dazu müssen sie aber mitten unter uns wohnen, dies bezahlen und die Wohnung auch selbständig verlassen können.
Bernd Gökeler, Gruppenleiter Multiple-Sklerose Selbsthilfegruppe Marburg-Biedenkopf