Tunesien im Aufbruch: Praktikantin berichtet von Erfahrungen in Marburgs Partnerstadt Sfax
Marburg, 19.5.2013 (pm/red) Stefanie Klos, zweite Vorsitzende des Vereins für Interkulturelle Bildung und Austausch Marburg e. V., absolvierte im Rahmen des Kulturaustauschs zwischen den Partnerstädten Marburg und Sfax ein dreiwöchiges Praktikum in der tunesischen Stadt und berichtet über ihre vielfältigen Eindrücke.
Bei einem Treffen mit Bürgermeister Dr. Franz Kahle bedankte sich Stefanie Klos, die an der Philipps-Universität im Fach Medienwissenschaft promoviert, für die finanzielle Unterstützung des Magistrats. Die Städte Marburg und Sfax kooperieren seit 1971, es finden regelmäßig Austausche von Praktikanten und kulturelle Veranstaltungen mit Beteiligten aus beiden Städten statt.
„Es war eine unvergessliche Erfahrung, die Menschen in Sfax waren sehr offen, hilfsbereit und unglaublich gastfreundlich.“, sagt Stefanie Klos. Neben dem Bürgermeister hörte auch Salim Sahip, Gründer und Vorsitzender des Vereins für Interkulturelle Bildung, dem Bericht über das Praktikum in Sfax aufmerksam zu.
Zusätzlich zu den zahlreichen Unternehmungen und Besichtigungen, die in Sfax für sie organisiert wurden, konnte sich Frau Klos auch ein Bild über die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Situation im Tunesien nach der Revolution machen. „Die Lage ist sicher und ruhig, aber keinesfalls geordnet oder abschließend geklärt. Ich hoffe sehr, dass der Wille zur Demokratie sich weiterhin durchsetzt und dass die Zukunft des Landes nicht durch die Machtinteressen konservativer Gruppierungen bestimmt wird“, so ihre Bewertung.
Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus dem Reisebericht von Stefanie Klos
Praktikum in Sfax – ein Reisebericht
Als ich am Samstag, den 9. März die Sicherheitskontrollen am Frankfurter Flughafen hinter mir ließ, war mir mulmig zumute. Ich konnte schlecht einschätzen, was mich in Tunesien erwartet. Zwar war geklärt, dass mich jemand am Flughafen in Tunis abholen und in den Zug nach Sfax setzen würde, ebenso war im Voraus vereinbart worden, wo ich die erste Nacht verbringen sollte. Nur dass alles wie geplant funktionieren würde, wagte ich zu bezweifeln. Zugegeben – ich hatte Vorurteile. Was man eben so hört: in arabischen Ländern nehmen sie es mit Absprachen nicht ganz so genau, man muss improvisieren, sich auf Planänderungen einstellen.
Größer noch waren allerdings meine Bedenken, was die Sicherheitslage in Tunesien angeht. Immerhin ist Tunesien das Land, in dem der so genannte Arabische Frühling mit den Protesten gegen Machthaber Ben Ali seinen Anfang nahm. Kurz vor meiner Abreise erst hatte es wegen der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid erneut Unruhen gegeben.
Tunesien hat bis heute keine gültige Verfassung. In meiner Vorstellung tauchten am Rande auch immer religiöse Fanatiker auf, die nichts anderes im Sinn hatten, als westliche Touristen zu entführen. (…) Zum Glück habe ich meine Zweifel ignoriert und bin ins Flugzeug gestiegen. Ich habe in Tunesien so viele nette, hilfsbereite, offene Menschen getroffen, dass das Erste, was ich mit diesem Bericht zum Ausdruck bringen möchte, ein großes Dankeschön ist. Egal, wo ich hinkam, ich wurde stets freudig empfangen und mit einer fast beschämend selbstlosen Gastfreundschaft aufgenommen. Man hat sich stets aufmerksam um mich und meine Sicherheit gekümmert, sodass von Gefahr nie etwas zu spüren war. Auch war immer jemand pünktlich zur Stelle, wenn ich irgendwo abgeholt werden sollte. (…)
Mein Praktikum absolvierte ich im Kulturzentrum Borj Kallel in Sfax. Dieser alte ‚Turm’ – klassische Sfaxer Architektur – wurde von seinem Besitzer aufwendig restauriert und dann mit der Bitte, ihn durch kulturelle Arbeit mit Leben zu füllen, dem Sfaxer Verein der Freunde Bildender Kunst (Association des Amis des Arts Plastiques) zur Verfügung gestellt. Bei dessen Vorsitzender, Mme. Aida Zahaf, war ich während des größten Teils meines Aufenthalts sehr gut und komfortabel untergebracht.
Borj Kallel wird genutzt für kulturelle Veranstaltungen, Ausstellungen und beherbergt verschiedene Ateliers. Ich konnte die ‚Woche der Amateure’ begleiten, bei der es einen Amateur-Malwettbewerb mit anschließender Preisverleihung, Konzerte von jungen Musikern sowie eine Ausstellung von Amateur-Kunst gab. (…)
Alle, bei denen ich für eine Zeit lang wohnte, haben sich sehr viel Mühe gegeben, für mich ein interessantes Rahmenprogramm zu organisieren, damit ich möglichst viel von der Stadt zu Sehen bekomme. So habe ich ein Tonstudio besucht, eine Grundschule besichtigt, die arabische Altstadt mit ihren Märkten, Cafés und Geschäften, die Inseln von Kerkennah, zwei Textilfabriken, eine Zeitungsredaktion sowie das Multimedia-Institut der Universität.
Doch es gab noch weit mehr zu entdecken. Ich konnte das Museum ‚Dar Jellouli’ besichtigen, untergebracht in einem klassisches Stadthaus in der Altstadt, das traditionelle Möbel, Kleidung und Haushaltsgegenstände ausstellt. Ich bekam eine Führung in einer bekannten Fabrik, die traditionelle Sfaxer Süßwaren herstellt. Ich durfte die Arbeit des Frauenvereins ‚Majida Boulila’ beobachten, wo ein Seminar für Frauen zum Thema Existenzgründung angeboten wurde. Bei einem Treffen mit dem Vorsitzenden des Sfaxer Filmclubs ‚Tahar Chériâa’, konnte ich mich über das städtische Angebot im Bereich Kino informieren.
Selbstverständlich wurde ich auch für eine kurze offizielle Begrüßung durch Hichem Elloumi, den Generalsekretär der Stadtverwaltung im Rathaus empfangen, der mich herzlich willkommen hieß. (…)
Doch bei all dem gibt es natürlich auch Probleme. Tunesien ist kein Paradies. Die Kluft zwischen armen und reichen Bevölkerungsschichten ist enorm, und dies ist häufig direkt sichtbar. Es gibt, anders als bei uns, keine ausgeprägte Tendenz dazu, dass sich in bestimmten Stadtvierteln bestimmte Bevölkerungsschichten ansiedeln. Vielmehr stehen hier Häuser, die kaum größer sind als Garagen, in denen ganze Großfamilien leben, neben Villen, deren Räume mit Gold und Marmor ausgestattet sind. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass man sich hier seiner Verantwortung gegenüber den weniger privilegierten Teilen der Gesellschaft bewusst ist.
Es gibt viele Vereine und private Organisationen, die versuchen, Hilfe zu leisten – vielleicht auch, weil der Staat sie momentan nicht leisten kann. Ein anderes Problem, bei dem ebenfalls staatliche Maßnahmen angebracht wären, ist die Umweltverschmutzung. Müll wird häufig einfach auf die Straßen geworfen, Industrieabfälle werden nicht fachgerecht entsorgt. Gerade Sfax als Industriestandort und Hafenstadt ist leider stark davon betroffen. Nach der Revolution ist eben vieles noch ungeklärt, Behörden arbeiten unkoordiniert, die Müllabfuhr ist nicht geregelt, so einiges bleibt sich selbst überlassen. Das ist für Touristen keinesfalls gefährlich, kann aber kurzfristig Umstände machen. Es kommt gelegentlich zu Streiks, manche Straßen sind in unbenutzbarem Zustand, der Bahnverkehr läuft nicht immer planmäßig. (…)
Wenn ich zu Anfang schrieb, dass die Menschen sehr offen sind, dann betrifft das auch eine neue Kultur des gesellschaftlichen Austauschs. Es ist jetzt, nach Ben Ali, erlaubt, öffentlich über Politik zu diskutieren, und davon wird hier – viel stärker als bei uns – Gebrauch gemacht. Wie mir von unterschiedlichen Seiten auf Nachfrage hin versichert wurde gibt es im Moment so gut wie keine Zensur im Bereich der Medien und der Kunst. (…)
Tunesien befindet sich im Aufbruch, doch es ist unklar, wohin die Reise geht. (…)
Stefanie Klos
Verein für interkulturelle Bildung und Austausch e. V., Marburg, April 2013