Jugendliche ohne Mindestlohn? Ausnahmeregelungen fragwürdig – Gefahr von Verdrängungseffekten
140321 Es gibt kaum Indizien dafür, dass Ausnahmen von einem Mindestlohn sinnvoll sind, um Arbeitsmarktchancen junger Leute zu verbessern. Zwar haben neun EU-Staaten niedrigere Lohnuntergrenzen, meist für Jugendliche unter 18. Wie sie sich auswirken, ist aber wissenschaftlich umstritten. In der Forschungsliteratur finden sich sogar Hinweise auf problematische Verzerrungen am Arbeitsmarkt, weil ältere Beschäftigte verdrängt werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.
Auch eine genauere Analyse der Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation von Jugendlichen in Deutschland lässt generelle Ausnahmen vom Mindestlohn nach der WSI-Untersuchung äußerst fragwürdig erscheinen: Bereits heute sind die tariflichen Einstiegslöhne für Ungelernte in vielen Branchen deutlich höher als die Vergütung für Auszubildende, zeigen die WSI-Forscher Marc Amlinger, Dr. Reinhard Bispinck und Dr. Thorsten Schulten. Doch „das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Ausbildungsvergütung und Erwerbseinkommen hat bislang nicht zu negativen Anreizen geführt“, resümieren die Wissenschaftler.
Denn zugleich sind mehr als 90 Prozent der jungen Leute in Deutschland zwischen 15 und 19 Jahren Schüler, Studenten oder Auszubildende. Auch die große Mehrheit, rund drei Viertel, der Jugendlichen mit Haupt- oder Realschulabschluss geht einer Ausbildung nach. Jene Minderheit der Jugendlichen, die nicht in Ausbildung ist und arbeitet, tut das ganz überwiegend (97 Prozent bei den Unter-18-Jährigen, 74 Prozent bis 21 Jahre) in Minijobs, nicht in Tätigkeiten mit höherer Stundenzahl. Ausnahmen sind diskriminierend Rechtlich sind altersbezogene Sonderregelungen beim Mindestlohn eine offene Form der Altersdiskriminierung, stellen Rechtswissenschaftler wie Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano klar.
Der Juraprofessor an der Universität Bremen hält sie daher für verfassungs- und europarechtlich unzulässig. Zu rechtfertigen wäre eine solche Diskriminierung allenfalls, wenn so anderen spezifischen Nachteilen der betroffenen Beschäftigtengruppen auf dem Arbeitsmarkt wirksam entgegengewirkt werden könnte. Doch dieses Ziel werde nicht erreicht, urteilt der Experte für Europa- und Völkerrecht.
WSI-Studie analysiert Situation im In- und Ausland
Das unterstreicht die Studie des WSI, die sowohl die Erfahrungen in Ländern mit Mindestlöhnen analysiert als auch die Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation von jungen Menschen in Deutschland: „Die zur Rechtfertigung besonderer Jugendmindestlöhne oder gar vollständiger Ausnahmeregelungen für Jugendliche vorgebrachten ökonomischen Gründe sind insgesamt wenig überzeugend.“ Das gelte sowohl für das Argument, ohne Ausnahmen drohe mehr Jugendarbeitslosigkeit als auch für die Annahme, ein Mindestlohn könne Jugendliche von einer Ausbildung abhalten.
Jugendmindestlöhne meist für Minderjährige
21 von 28 EU-Ländern verfügen über einen gesetzlichen Mindestlohn. Fünf von ihnen haben Sonderregeln, die vorsehen, dass Jugendliche unter 18 Jahren nicht den vollen Mindestsatz pro Stunde verdienen müssen: Frankreich, Luxemburg, Irland und Malta, wobei die Franzosen die Ausnahmen auf die ersten sechs Monate der Erwerbstätigkeit befristen. In vier weiteren Staaten gelten aktuell auch für einen Teil der jungen Erwachsenen besondere Bestimmungen: Großbritannien und die Tschechische Republik (befristet auf sechs Monate) setzen ein Mindestalter von 21 Jahren für den Bezug des vollen Mindestlohns voraus, in den Niederlanden sind es 23 und in Griechenland 25 Jahre. In Belgien haben Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam durchgesetzt, die Altersgrenze Anfang 2015 von 21 auf 18 Jahre zu senken.
„Damit sieht der größte Teil der EU-Länder deutlich weniger Ausnahmen vor als von Arbeitgebervertretern und einigen konservativen Politikern in Deutschland gefordert wird. Das gilt auch für die meisten unserer westlichen Nachbarn, die schon heute höhere Mindestlöhne haben als die 8,50 Euro, die bei uns ab 2015 vorgesehen sind“, sagt WSI-Mindestlohnexperte Schulten. Zugleich sei in der internationalen wissenschaftlichen Debatte äußerst umstritten, ob solche Ausnahmen überhaupt positive Wirkungen haben.
Jugendarbeitslosigkeit: Konjunktur und Ausbildungssystem entscheiden, nicht der Mindestlohn
Die spezielle Literatur zu Mindestlöhnen kommt zu sehr unterschiedlichen Befunden, zeigen die Wissenschaftler aus dem WSI. Einige ältere Studien, die im wesentlichen auf statistischen Schätzungen beruhten, attestierten Mindestlöhnen zwar einen leicht negativen Effekt auf die Jobchancen von Teenagern. Dagegen gelangten aber viele neuere Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich Mindestlöhne entweder gar nicht oder nur sehr gering auf die Beschäftigung junger Menschen auswirkten. So lautet das Fazit einer umfangreichen Literaturstudie im Auftrag der britischen Low Pay Commission: „Die Größe von Beschäftigungseffekten, die sich aus der Einführung oder Erhöhungen von Mindestlöhnen für junge Leute ergeben, sind in der großen Mehrheit der erfassten Studien extrem klein und am Rande der statistischen Signifikanz.“
Dazu passt eine zweite Beobachtung: In der Forschungsliteratur über die Ursachen von Jugendarbeitslosigkeit spielen „Mindestlöhne in der Regel kaum eine Rolle“, schreiben Amlinger, Bispinck und Schulten. Als zentraler Faktor gilt unter Arbeitsmarktexperten vielmehr die konjunkturelle Entwicklung: Läuft sie gut, finden auch junge Arbeitnehmer einen Job. Steckt die Wirtschaft in der Krise, sind sie überproportional stark von Arbeitslosigkeit betroffen – wohl auch, weil Berufseinsteiger häufiger nur befristete und wenig geschützte Arbeitsverhältnisse haben.
Kaum Hinweise auf Anreize gegen Qualifizierung
Ebenfalls sehr wichtig ist die Integrationsleistung des jeweiligen nationalen Ausbildungssystems. Dabei schneiden Länder wie Deutschland mit einer dualen Kombination von Schule und Lehre relativ gut ab. Wenn Mindestlöhne junge Leute wirklich von einer Ausbildung abhalten würden, könnte das also tatsächlich Probleme hervorrufen. Allerdings lassen sich auch für diesen Einwand kaum Indizien finden, betonen die WSI-Forscher. Selbst in den Ländern mit langer Mindestlohn-Erfahrung gebe es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen – ein Hinweis darauf, dass der angebliche Fehlanreiz in der Praxis wohl keine große Rolle spielt. Und wo geforscht wurde, fallen die Ergebnisse unspektakulär aus: Britische Wissenschaftler fanden „wenig Evidenz dafür, dass der Nationale Mindestlohn junge Leute aus einer Ausbildung in den Arbeitsmarkt gezogen hat“. Eine weitere Studie bestätigt das und konstatiert sogar verstärkte Ausbildungsaktivitäten der Unternehmen.
Tariflöhne für Ungelernte deutlich höher als Ausbildungsvergütungen
In Deutschland gibt es zwar noch keinen Mindestlohn, in etlichen Branchen verdienen Auszubildende aber ebenfalls erst einmal weniger als ungelernte Arbeitnehmer, macht die WSI-Analyse deutlich. So liegt die durchschnittliche Ausbildungsvergütung nach Daten des Bundesinstituts für Berufliche Bildung bei 761 Euro im Monat. Das entspricht einem Stundenlohn von 4,63 Euro. Dagegen sieht die große Mehrheit der Tarifverträge auch für Ungelernte Einstiegslöhne von 8,50 Euro und mehr vor. Der vermutete negative Anreiz bestehe also in vielen Branchen „bereits seit langer Zeit, ohne dass überzeugende Belege für seine breite Wirkung erbracht werden können“, konstatieren die Wissenschaftler. Unter den beliebtesten Lehrberufen seien vielmehr gleich mehrere, in denen die Ausbildungsvergütung sehr niedrig ist, beispielsweise Friseurinnen oder Hotelfachleute. Für Jugendliche mit schlechtem oder ohne Schulabschluss könnten Jobs natürlich attraktiver werden, wenn sie infolge des Mindestlohns besser bezahlt würden.
„Deren Probleme resultieren aber im Kern aus einer mangelnden Ausbildungs- und Aufstiegsperspektive und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten verbessern sich keineswegs dadurch, dass ein Niedriglohnsektor erhalten wird, der noch dazu langfristig die sozialen Risiken dieser Beschäftigtengruppe erhöht“, betonen Amlinger, Bispinck und Schulten.
Verdrängungseffekte oberhalb der Altersgrenze
Nach Analyse der WSI-Forscher liefert die internationale Forschung sogar Indizien für Fehlanreize ganz anderer Art: Forscher in Großbritannien und den Niederlanden beschreiben Verdrängungs-Effekte durch Sonderregelungen beim Mindestlohn. So sind in holländischen Supermärkten mehr als 50 Prozent der Beschäftigten jünger als 23. Und britische Studien deuten darauf hin, dass junge Arbeitnehmer ein erhöhtes Beschäftigungsrisiko aufweisen, wenn sie sich der Altersgrenze nähern, ab der sie Anspruch auf den vollen Mindestlohn haben. „Erhalten Jugendliche einen deutlich niedrigeren oder gar keinen Mindestlohn, so haben Unternehmen einen großen Anreiz, ältere Arbeitnehmer durch „günstigere jüngere Beschäftigte auszutauschen“, warnen die WSI-Experten. Das schädige nicht nur deutlich ältere Beschäftigte, sondern gerade auch junge Leute knapp über der Ausnahme-Grenze.