Disput Seniorenzentrum Richtsberg: Phantomdebatte im Angesicht der MitarbeiterInnen
Marburg 140717 (yb) Eine weitere Session in der Auseinandersetzung um die Marburger Altenhilfe, konkret das Seniorenzentrum am Richtsberg, brachte die gestrige Sitzung des Sozialausschusses. Die CDU hat ihren Antrag zum Neubau einer Alteneinrichtung mit 80 Betten eingebracht und begründet. SPD und Oberbürgermeister Vaupel versuchten angestrengt rhetorisch dagegen zu halten – und das unter den kritischen Augen und Ohren von etwa 25 erschienenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Marburger Altenhilfe. Dabei ist der Streit um die Zukunft der stationären Einrichtung in Marburgs größtem Stadtteil weitergeführt worden. Zugleich wurde die trotz jahrelanger ergebnisloser Planungen, Gutachten, Beschlussfassungen und Diskussionen nach wie vor fehlende Konzeption der Rot-Grünen Stadtregierung erneut angeprangert.
Eine merk-würdige Ausschusssitzung: Ungewöhnlich zahlreich erschienenes Publikum, verspäteter Beginn wegen vorhergehender Beratung des Oberbürgermeister mit Ausschussmitgliedern vor der Tür, gut 90minütige Diskussion über den Tagesordnungspunkt CDU-Antrag Neubau Seniorenwohnheim Richtsberg/Zukunft Altenhilfe und Eintreffen eines Ausschussmitglieds exakt nach der Debatte waren besondere Symptome.
Wieland Stötzel begründete den CDU-Antrag nach Kritik an jahrelanger Untätigkeit bzw. Ergebnislosigkeit mit dem Wunsch nach „vernünftiger Aufstellung der Altenhilfe, wo wir auch dahinter stehen können.“ Die jüngst bekannt gewordene Schätzung der Sanierungskosten für das Altenheim in der Sudetenstraße 24 in Höhe von 18,4 Millionen Euro beantwortete er mit einer einfachen Gegenrechnung.
Der Bau einer neuen Einrichtung mit der Blaupause aus dem Cölber Seniorenhaus würde 9 Millionen Euro kosten; 3 Millionen Euro könnten mit Verkauf zur allgemeinen Wohnnutzung des jetzigen Hochhauses erlöst werden. Damit seien mit der von seiner Fraktion beantragten Lösung, inhaltlich identisch mit der Forderung von Ortsbeirat Richtsberg und der des Seniorenbeirats, lediglich 6 Millionen Euro Investitionskosten zu finanzieren, was eine Differenz und Einsparung von 12 Millionen Euro bedeuten würde. Bekannt und unstrittig sei zudem, dass eine Senioreneinrichtung (erst) mit einer Größe von 80 Betten wirtschaftlich geführt werden könne.
Ulrich Severin (SPD) versuchte dagegen zu halten. Der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung (StVV) von 2013 sehe – im Unterschied zum Beschluss für einen Neubau der StVV von vor fünf Jahren – quartiernahe Lösungen vor, die Schaffung kleinerer Einheiten, zudem betreutes Wohnen und kultursensible Angebote. Er musste einräumen, dass seitens des Magistrats seit der letzten Beschlussfassung der StVV „bis heute nichts passiert ist.“
Trotz längerer Ausführungen konnte Severin nicht plausibel machen, dass eine Verwirklichung des aktuellen CDU-Antrags mit Neubau am Richtsberg unverträglich wäre zu neuen Konzepten mit ambulanter und quartiernaher Versorgung.
Schnell wurde die weitere Debatte zum erneuten Jo-Jo-Spiel. Bei Beteuerung der Sicherheit der Arbeitsplätze für die Beschäftigten, Beteuerung von bleibender Tariftreue in der Bezahlung und guter Betreuung der Alten, wurden teils merkwürdige ‚Argumente‘ vorgetragen. Dies konnte nicht darüber hinweghelfen, dass Rot-Grün sich dem Antrag und damit einem Neubau am Richtsberg verweigert. Es würde noch einmal zwei Monate dauern, bis man Entscheidungsgrundlagen habe, das Ganze sei nun einmal kompliziert.
Der Begriff ‚Konzept‘ geriet zum hohlen Schlagwort. Solches habe man doch vorgelegt, meinte Ausschussvorsitzende Christa Perabo, solche seien jetzt noch einmal bei Architekten beauftragt und die CDU habe selbst keine. Ebenso erstaunlich wie befremdlich war es dem als Zuhörer folgen zu müssen.
„Sie können doch mal was für die alten Leute tun“, rief eine sichtlich genervte Bewohnerin des Richtsbergheims in die sich im Kreis drehende Diskussion. „Ich bin Bewohnerin, es war ein schönes Heim“, war aus ihrem Mund zu vernehmen. Manfred Jannasch (CDU), Jan Schalauske (Marburger Linke) und wiederholt Oberbürgermeister Vaupel machten weiter im Disput. Beinahe alle Fragen an ihn gestellten lies der Oberbürgermeister (wortreich) unbeantwortet. Schließlich hindert ihn der Koalitionsvertrag und damit die Grünen daran das zu tun, was auch viele Genossen von ihm fordern, er womöglich selbst befürwortet und er als OB aus ‚Koalitionstreue‘ nicht umsetzen darf.
Rhetorische Volten, verbale Scharaden und widersinnige Ausreden. Wieland Stötzels energische und erneute Nachfrage „was wollen sie denn, Herr Oberbürgermeister?“ blieb unbeantwortet. Befremdlich, dass kein Grüner Stadtverordneter sich zu Wort meldete und peinlich, wie die Ausschussmehrheit Fragen ignorierte und Ausflüchte strapazierte.
Dass dabei eine Menge nicht stimmt, im Grunde ein Possenspiel von Rot-Grün bei anhaltender Untätigkeit in der Sache stattfand, war unübersehbar. Völlig klar war, dass der CDU-Antrag abgelehnt wurde und der Oberbürgermeister und die Rot-Grüne Mehrheit sich einmal mehr über die Runde gerettet haben. Doch das macht unzufrieden und betroffen.
Wenn dann noch der demografische Wandel – mit einem wachsenden Bevölkerungsanteil älterer Menschen – bemüht wird um gegen den Bau eines zeigemäßen Altenwohnheims am Richtsberg zu votieren, steckt die Marburger Altenpolitik vollends in der Sackgasse. Seit vielen Jahren wird gestritten, informiert, untersucht und korrigiert. Am Zuge war und bleibt der Magistrat, dem zu Recht Untätigkeit und Verweigerung vorzuhalten ist.
Das ist ungut, will im Grunde keiner. Auch ein Verweis von Bettina Böttcher, SPD-Stadtverordnete aus dem Stadtteil, auf die erfolgreiche soziale Arbeit am Richtsberg und ihr Appell die Altenhilfe nicht zum politischen Spielball verkommen zu lassen, konnte nicht überzeugen. Wenn dann die Ortsvorsteherin vom Richtsberg erst nach diesem Tagesordnungspunkt zur Sitzung erscheint, wird nicht nur die Doppelbödigkeit der aktuellen Rot-Grünen Marschlinie offenbar. Bei alledem werden die Marburger SPD und viele ihrer Mitglieder verschlissen und so manche persönliche Glaubwürdigkeit wird zerstört.