Vorne Hui und hinten Pfui: Vom vergeblichen Einsatz einer Marburger Bürgerinitiative – Reportage aus der Oberstadt
Das war zuviel, wurde als dreiste Zumutung wahrgenommen. Die Bürgerinitiative führe seit Jahr und Tag einen vergeblichen Kampf gegen Verdreckung, wild umherstehende Mülltonnen, umherliegenden Sperrmüll und verkehrswidrig abgestellt Fahrräder. Dann komme eine solche Aufforderung ins Haus wegen der ‚Nacht der verborgenen Geschichte‘.
Städtische Bedienstete würden abwiegeln, Telefonanrufe nicht ernst nehmen. Die Stadtverwaltung würde die Probleme herunterspielen. Die Kommunalpolitik zeige sich handlungsunwillig. „Und jetzt sollen ausgerechnet wir zu einem „ansprechenden Gesamtbild“ beitragen“ sagt einer der Anwesenden, dem man die Empörung anmerkt. Es hört sich authentisch und glaubhaft an, was diese Oberstadtbewohner vortragen. So schlage ich vor, dass wir uns in ein paar Tagen zu einem Ortstermin treffen, wozu ich die Fotokamera mitbringen würde.
Neben dem Schreiben von MTM bekomme ich ein Flugblatt der BI, einen Vordruck einer Unterschriftenliste und ein Papier mit Überlegungen für die Konstituierung eines Ortsbeirats mit auf den Weg. An Aktivitäten, Überlegungen und Versuchen zur Lösung der Anwohnerprobleme hat es also nicht gemangelt. Die ‚Bürger für Marburg‘ hatten sich der Sache angenommen und eine Parlamentsinitiative gestartet. Ohne Ergebnis. Der Müll und Mülltonnen sind Dauerbrenner in der Oberstadt.
Dienstagabend, 18.30 Uhr, Treffpunkt Marktbrunnen. Josefa Zimmermann, Dr. Wolfgang Göbel, Maria Hessling und Christopher Moss erwarten mich schon und wir gehen über den Obermarkt zum ‚Weinlädele‘. Gegenüber der gutbesetzten Freiterasse am Anfang der Steingasse steht die erste Batterie Mülltonnen. Die Rittergasse gehen wir hinauf zum Platz vor der Lutherischen Pfarrkirche und stolpern förmlich über links und rechts abgestellte Mülltonnen in blau und schwarz.
Es wirkt geradezu wie bestellt. Ist es aber nicht, an diesem Dienstagabend im September 2014. Während sich auf dem Marktplatz und in der Barfüßerstraße die Touristen speisen und spazieren, stehen nur wenige Meter weiter auf Gassen, Sträßchen und engen Treppen ungezählte – aber ganz offensichtlich geduldete – Mülltonnen und Fahrräder.
Nach dem Rundgang Besprechung in der Barfüßerstraße. „Seit dem Auslaufen der Bindungsfristen aus der Altstadtsanierung hat sich die Situation in der Oberstadt dramatisch verschlechtert„, berichtet Dr. Wolfgang Göbel. „Inzwischen können Wohnungen in vor über 20 Jahren sanierten Häusern wieder frei vermietet werden„, führt er aus. Das habe zur Folge, dass immer mehr Studierende in die Oberstadt ziehen und Familien mit Kindern wegziehen.
Man habe durchaus nichts gegen Studenten, erläutert Josefa Zimmermann. Doch bei schwindender gewachsener Bevölkerung und nur jeweils kurzfristig eingemieteten Studierenden entstehe Raum für solche Gebaren. Diese würden zugleich geduldet, die Stadt unternehme nichts. „Es sieht so aus, als ob wir einen Ortsbeirat für die Oberstadt brauchen„, fügt BI-Aktiver Göbel hinzu. „Weil unsere Anliegen als Bürgerinitiative nicht ernst genommen werden.“
Die vier Oberstadtbewohner sind sich einig und wissen viele andere geplagte Marburger auf ihrer Seite. Etwas ratlos und unangenehm beeindruckt von solch vernachlässigten Verhältnissen mache ich mich auf den Weg. Es verwundert geradezu die Gelassenheit dieser Bürger, die sich für ihre Oberstadt einsetzen. Dass sie keiner wahrnehmen will, sie am Telefon mit ihren Beschwerden abgewimmelt werden, will mir nicht in den Kopf. „Mit zu vielen rein studentischen Bewohner kann die Oberstadt nicht überleben„, hatte mir Maria Hessling, die in der Reitgasse wohnt, mit auf den Weg gegeben. Aber ohne Bürgerinnen und Bürger, die sich für ihren Stadtteil interessieren und sich engagieren kann es schon gar nichts werden, gerade wenn Stadtverwaltung und Politik sich offenbar anhaltend verweigern.
Manche Reportage würde man lieber nicht schreiben müssen. Hartwig Bambey