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Antigida Marburg: Das Abendland bleibt nur dann bewahrt, wenn es seine Vielfalt bewahrt

dbav0105_0113 Anti Pegida Demo MarburgMarburg 8. Januar 2015 (red) Als Redner bei der beeindruckenden Antigida-Demonstration in Marburg am 5. Januar hat Helmut Wöllenstein deutliche Worte gefunden. Der Propst des Sprengels Waldeck und Marburg der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck plädierte mit ruhiger Stimme für Toleranz und Vielfalt und führte überzeugende historische Hintergründe in die Betrachtung. Das Marburger. Online-Magazin veröffentlicht als Gastbeitrag die Ansprache von Propst Wöllenstein , die von den vielen Tausend versammelten Menschen unterschiedlichen Glaubens und weltanschaulicher Orientierung mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen wurde:

dbav0105_0240 Propst Helmut WöllensteinZuerst einmal herzlichen Dank den Frauen und Männer, die diese Demo auf den Weg gebracht haben. Zwischen den Jahren, wo die meisten von uns auf Rückzug waren und im Privatleben, sind Sie aktiv geworden. Ich finde, das ist ein tolles Zeichen für unsere demokratische Kultur. Denn auch die Not von Menschen auf der Flucht macht keine Pause. Wir haben die Bilder gesehen, die sogenannten blinden Passagiere in der gekenterten Adria-Fähre und die unsägliche Praxis der Geisterschiffe, bei der es einem eiskalt den Rücken runter läuft. Allein das sind neue Anstöße, darauf zu drängen, dass die EU ihre Flüchtlingspolitik ändert!

Nun aber zur Pegida. Als Vertreter der Evangelischen Kirche sage ich ein klares Nein dazu. Ohne jedes Ja. Nicht gegenüber den einzelnen Menschen. Aber gegenüber der Bewegung. Dieses öffentliche Spielen mit einer schillernden Identität zwischen Nadelstreifen und dumpfen Massen-Geraune. Zwischen Weihnachtsliedern, hoch gehaltenen schwarz-rot- gold bemalten Kreuzen und rassistischen Parolen, dass es einen grausen kann. Zwischen sogenannter bürgerlicher Mitte und rechtem Rand. Wer denken kann, sollte wissen, bei wem er sich hier zum Mitläufer macht. Welche Geister er damit ruft, die er, einmal gerufen, nicht mehr so schnell los wird.

Selbstverständlich muss bei uns gesagt werden können, was schief läuft in Politik oder Kirche. Doch das Thema sollte klar auf den Punkt gebracht werden. Wenn es um soziale Benachteiligung geht, um gefühlte oder tatsächliche Ausgrenzung, um Ungerechtigkeit – dann müssen diese Dinge dort verhandelt werden wo sie hingehören: In der Sozial und Wirtschaftspolitik.

Sich dann aber einen Sündenbock auszusuchen, einen der schwächer ist und möglichst fremd, möglichst weit weg – In Dresden gibt es ja bezeichnender Weise kaum Muslime. Dieser uralte Sündenbock-Mechanismus ist so billig wie er wirkungslos ist! Und vor allem sollte er nach den Katastrophen des letzten Jahrhunderts hier bei uns in Deutschland durchschaubar sein.

Antigida Marburg unter den Augen von Sophie von Brabant auf dem mit Scheinwerfern erleuchteten Marktplatz. Sternbald-Fotos Hartwig Bambey.

Antigida Marburg unter den Augen von Sophie von Brabant auf dem mit Scheinwerfern erleuchteten Marktplatz. Sternbald-Foto Hartwig Bambey.

Wir in der Kirche, – und da sind wir uns ganz einig mit den Katholiken – sehen es als eine moralische Pflicht, Flüchtlinge aufzunehmen. Und das zunächst ohne jede Bedingung. Einfach weil sie Menschen sind, Menschen in Not, egal ob Christen, Muslime oder Menschen ohne Religion. Und da dürfen wir Kirchen nicht nur Sonntagsreden halten, sondern wir müssen handeln und wir tun es auch: Etwa im Ausbau der Flüchtlingsberatung, in der Aufstockung der Mittel für humanitärer Direkthilfe.

Und was mich am meisten freut: das Engagement ‚von unten‘! In den Gemeinden gibt es ganz starke Initiativen. Es ist eben nicht mehr so wie Anfang der Neunziger, als es nach den Brandanschlägen in Mölln und Hoyerswerda eine schweigende Mehrheit gab. Sondern da wird ein Kirchenasyl initiiert, wie hier in Marburg in ein oder zwei Fällen. Menschen werden vor der schnellen Abschiebung über ihr vermeintlich sicheres Land ihrer Einreise in der EU bewahrt und bekommen ein ordentliches Verfahren.

Oder in den Dörfern und kleinen Städten im Umland gehen die Leute zur Landrätin und sagen: Wir haben ein Haus mitten im Ort, das steht leer, da können Flüchtlinge wohnen – und wir werden uns darum kümmern. Und dann lädt eine Gruppe aus dem Ort die Eritreer ein ins Gemeindehaus ein zum Begegnungscafe. Man spricht einfach Deutsch mit ihnen, oder verständigt sich mit Händen und Füßen – und es geht fürs erste. Jemand nimmt sie mit in den Sportverein.

Und das Dorf merkt selbst, wie gut es ihm tut, dass leerstehende Häuser bewohnt werden oder dass die Busverbindung in die Stadt wieder eingerichtet wird. Man erlebt auch, wie gut es ist, wenn alle zusammen arbeiten: Kirchen, Parteien, Initiativen, der Sportverein, die Ortsgruppe von Amnesty…

Oder auch die Ehrenamtlichen mit denjenigen, die professionell mit Ausländern zu tun haben: Sozialarbeiter, Lehrerinnen, die Leute vom Ausländeramt. Die haben ja wirklich keinen leichten Job und machen ihn oft ganz engagiert! – So dass ich an der Basis hier überhaupt nicht sehe, was jetzt überall im Land als Ursache für den Protest angenommen wird: Eine allgemeine Politikverdrossenheit, die Entfremdung der Menschen von den Behörden.

Oder dass es die Gesellschaft spalten würde, wenn man jetzt gegen Pegida protestiert. Denn es ist doch ein Engagement für den Zusammenhalt der Gesellschaft und allein durch die Projekte entstehen viele ganze neue und lebendige Verbindungen.

(Aus Zeitgründen ausgelassen): Aber bleiben wir nüchtern. Die Nachbarländer von Krisengebieten nehmen oft ein Vielfaches an Flüchtlingen auf im Verhältnis zu uns. Obwohl sie viel schwächer da stehen. Etwa der Libanon und die Türkei mit ihren Grenzen zu Syrien. Natürlich sollten auch die Lasten in Europa gleichmäßiger auf alle Schultern verteilt werden unter den Staaten. Deutschland muss nicht alles allein schultern. Und es sind gewiss Lasten zu tragen, wenn Menschen bei uns Hilfe brauchen über Jahre hin.

Aber es muss auch gesehen werden, dass aufs Ganze gesehen Menschen mit Migrationshintergrund viel mehr bei uns in die sozialen Systeme einzahlen als dass sie daraus erhalten. Man muss sicher feststellen, dass es schwierig ist, wenn einzelne Familienmitglieder von Zuwanderern, besonders oft Frauen über Jahre hin kaum aus dem Haus kommen und daran gehindert werden, Deutsch zu lernen. Es muss aber auch gesehen werden, dass der Bildungserfolg unabhängig von Religion und nationaler Herkunft vor allem von der sozialen Stellung einer Familie abhängt. – Fakten überzeugen hier in der Regel mehr als Moral.

dbav0105_0238 Antigida auf dem Marburger MarktplatzZum Schluss noch ein Wort zum Thema Abendland, das vor der Islamisierung bewahrt werden soll. Ich denke das Abendland bleibt nur dann bewahrt, wenn es seine Vielfalt bewahrt. Es ist aus einer Vielfalt entstanden: Griechen, Juden, Christen kamen zusammen im Vielvölkerstaat des Römischen Reiches. Ein aufgeklärter Islam hat später die verschütteten Quellen griechischer Philosophie wiederentdeckt.

Das Christentum trug bei zu einer Relativierung nationaler Zugehörigkeit. „Da ist werde Jude noch Grieche, weder Sklave noch Freier, weder Mann noch Frau alle sind eins in Christus“ – und alle sind „zur Freiheit berufen“, heißt es im Neuen Testament. Dieser Geist ist eingeflossen in die Formulierung der Menschenrechte, in die Anerkennung der Menschenwürde für jede und jeden unabhängig von Religion, Geschlecht, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Und diese Prägung ist es doch, die Europe attraktiv macht als Lebensraum.

Schrecklich wurde es im Abendland immer, wenn eine Nation, eine Religion oder Konfession andere zum Verschwinden bringen wollte. Und es gab ja immer neben dem mehrheitlichen Christentum die Juden in Europa. Und es gab meines Wissens Muslime in Europa solange es sie gibt.

Und alle drei mussten lernen, was wir hier in Marburg in jüngster Zeit recht gut gelernt haben: Dass man reden kann. Nicht nur am Runden Tisch der Religionen, auch an eckigen Tischen, also dann wenn es um die Ecken und Kanten geht, die wir einander zumuten. Wir haben erlebt, dass man zusammen feiern kann. Dass es möglich ist neben den schönen alten Kirchen in Marburg eine schöne neue Moschee zu planen (und hoffentlich bald zu bauen.)

Und nun stehen wir vor einer besonders anspruchsvollen Aufgabe: Dass wir zusammenhalten. Dass wir zusammenhalten gegen die Kräfte, die Europas Vielfalt und Freiheit einschränken wollen. Es darf aus unserer Sicht als Kirche keine Diffamierung des Islams als Religion insgesamt geben – bei aller notwendigen Distanzierung von islamistisch -terroristischer Gewalt.

Diese deutliche Distanzierung von der Gewalt ist allerdings auf beiden Seiten nötig, wenn wir einer Pegida-Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Und dafür stehe ich gern ein. Und dafür sage ich auch gern und in aller Deutlichkeit: Herzlich Willkommen der Islamischen Gemeinde. Herzlich willkommen auf Dauer: in Marburg, in Deutschland, in einem Europa religiöser Vielfalt und Freiheit.

Propst Helmut Wöllenstein

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