Open MIND macht Philosophie in neuer Open Access-Sammlung zugänglich
Marburg 31.01.2015 (wm/red) Wie gelingt es uns, andere Menschen zu verstehen? Schließen wir von uns selbst zurück auf andere? Oder bilden wir eine allgemeine Theorie, mit der wir alle erfassen? Oder läuft es ganz anders? Mit diesen Fragen beschäftigt sich eine Arbeit von Prof. Dr. Albert Newen (Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr Universität Bochum, die jetzt in der Online-Sammlung ‚Open MIND‘ erschienen ist. ‚Open MIND‘ ist eine neue Open Access-Sammlung frei zugänglicher Arbeiten zu Geist, Gehirn und Bewusstsein im Internet, die im Januar 2015 online gegangen ist.
Dazu wurden 39 führende Philosophen ausgewählt, einen Hauptartikel zur neuesten Entwicklung der Philosophie des Geistes beizutragen. Die Sammlung ermöglicht es, Studierenden und Forschern in aller Welt, kostenlos auf englischsprachige Texte zum Thema zuzugreifen. Viele verschiedene Theorien ranken sich ums Verstehen
Das Verstehen von Menschen untereinander fasziniert Forscher seit vielen Jahren. Wie gelingt es uns, Emotionen anderer intuitiv zu erfassen, über alle Kulturunterschiede hinweg? Müssen wir uns selbst verstehen, um andere verstehen zu können, weil wir ihr Verhalten simulieren, um es nachzuvollziehen (Simulationstheorie)? Oder gelingt es uns rasch, eine für alle Menschen gültige Theorie des Verhaltens zu erlernen, die wir jeweils zur Anwendung bringen (Theorie-Theorie)?
Beide Ansätze haben wichtige Mängel. Wir können uns in Menschen aus anderen Kulturen oder Menschen mit stark abweichenden mentalen Zuständen wie zum Beispiel Verfolgungswahn nicht (oder kaum) hineinversetzen. Trotzdem können wir rasch lernen, gut mit ihnen umzugehen. Sollten wir also annehmen, dass wir mit einer allgemeinen Theorie arbeiten? Auch das trifft oft nicht zu: Kleinkinder können schon früh andere verstehen, ohne dass es sinnvoll wäre zu sagen, sie hätten eine Theorie dazu. Und wir tragen der Besonderheit und Einzigkeit von Personen beim Verstehen Rechnung, was auch nicht zur Annahme einer allgemeinen Theorie passt. Daher ist die Suche nach einer neuen Theorie in vollem Gange. Prof. Newen hat seinen Theorievorschlag jetzt veröffentlicht.
Eigene Theorie integriert und erweitert
Die Vorzüge und Schwachstellen der gegenwärtigen Theorien analysiert Prof. Dr. Albert Newen in seinem Aufsatz ‚Understanding Others. The Person Model Theory‘ und entwickelt auf dieser Basis seine eigene sogenannte Personenmodelltheorie, welche die bisherigen erweitert und ergänzt: Wir verstehen andere mit Hilfe von Personenmodellen, die in zwei Formen auftreten. Zum impliziten Personenschema, das zum Beispiel Stimme, Gesicht oder Erscheinungsbild integriert, tritt das explizite Personenbild: Bewertungen von typischen körperlichen und geistigen Eigenschaften oder Fähigkeiten eines Menschen, der uns vertraut ist. Wir bilden Personenmodelle von Einzelpersonen, aber auch von Gruppen wie Ärzte, Studierende, Obdachlose. Solche Stereotype dienen zum schnellen ersten Verstehen von Gruppen.
Doch auch das Selbstverstehen spielt eine Rolle. Wenn uns kein besseres Personenmodell zur Verfügung steht oder eine Person uns selbst sehr ähnelt, können wir uns in seine Lage versetzen und von uns selbst auf seine Beweggründe für ein bestimmtes Verhalten zurückschließen. Das heißt, wir verwenden unser Selbstmodell als Grundlage des Verstehens. Anders als die Simulationstheorie es behauptet, ist das jedoch nicht der Standardfall, weil wir uns in den Grundmerkmalen der Person, wie Alter, Geschlecht, Beruf, Kulturzugehörigkeit, oft stark unterscheiden.
Open MIND – 2000 Seiten frei zugänglicher Text
Zur Textsammlung ‚Open MIND‘ haben 92 Autoren und Kommentatoren beigetragen. Dies ist eine Initiative der MIND Group, die aus Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Seniorforschern um den Mainzer Philosophieprofessor Thomas Metzinger besteht. Mit der Veröffentlichung der rund 2000 Seiten umfassenden Aufsatzsammlung begeht die Gruppe ihr zehnjähriges Bestehen.
—>Die Textsammlung ist online abrufbar