viva piazza fridericianum – Stricken, Stricken, Stricken bis zum 8. März

22.12.2024 (yb) Viele, sehr viele 50 x 50 cm große gestrickte oder gehäkelte Decken sollen den Friedrichsplatz am 8. und 9. März bedecken und werden anschließend zu Gunsten des Autonomen Frauenhauses Kassel versteigert.

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‚Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert’ – Wir können bloß in Fragmenten erzählen, was Lebenswirklichkeit war

dbav0220-Alltagsleben-IMarburg 22.02.2015 (red) Im Marburger Haus der Romantik wurde am 20. Februar die Ausstellung ‚Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert’ eröffnet. Diese Themen- und Sonderausstellung ist ein publikumsorientiertes Ergebnis eines Lehr- und Forschungsprojektes am Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, angeboten von Prof. Dr. Siegfried Becker und Prof. Dr. Marita Metz-Becker. 11 Studierende haben zu Aspekten und Fragen von Alltagsleben in Marburg im 19. Jahrhundert während zweier Semester geforscht, gesichtet, ausgewählt, konzipiert und schließlich zusammengestellt. Das Ergebnis ist eine bemerkenswerte Ausstellung und ein begleitender gedruckter Katalog als Manifestation ihrer Arbeit und Studien.

Den Katalog kann man kaufen und lesen, die Ausstellung kann man besuchen und betrachten. Beides empfiehlt die Redaktion und veröffentlicht den Text der Ansprache von Lea Dorothea Diehl, studentische Beteiligte,  zur Ausstellungseröffung als Gastbeitrag – eine Einführung aus studentischer Sicht:

dbav0220 Marburger Alltagsleben IIEinen Marburger Alltag, den leben wir alle. Beleben das Marburger Stadtbild, finden uns hier tagtäglich zu Recht. Kennen nach einer Weile jeden Winkel dieses überschaubaren Städtchens. Heute bestimmt es unseren Alltag. Wie aber nähern wir uns dem Marburger Alltag einer vergangenen Epoche an? Wie Alltag überhaupt? Henri Lefebvre ließe uns Alltag verstehen als „eine Art Rahmen, den man festlegt, um die Formen lesbar zu machen.“ (Lefebvre, Henri: Alltag und Alltäglichkeit. In: Architecture of the Everyday, New York 1997) Demnach wäre Alltag integrativer Moment einer Fülle verschiedener Elemente. So wäre er ein Vermittler, der uns die vielen Bilder unseres täglichen Lebens ordnen lässt.

Als wir uns letztes Jahr auf die Suche nach Alltag begaben, suchten wir gewissermaßen das Selbstverständliche. Wir suchten nicht die Vielgekrönten, die Helden der Geschichte, wir suchten ihre Dulder, ihre Verlierer. Ihre dienstbaren Geister, die, die tagein tagaus die Zimmer reinigten und die Wäsche wuschen. All das, was das Allgegenwärtige, das Selbstverständliche, kurzum das Alltägliche war. Und von dem heute weniges notiert, manches erhalten und vieles schlichtweg vergessen ist. Die Suche nach dem Alltagsleben des 19. Jahrhunderts begonnen wir zunächst zu Fuß. In seinem historischen Stadtbild selbst suchten wir die Marburger Orte auf, an denen wir auch heute noch Reste eines vergangenen Alltags sehen konnten. Dort, wo etwa Schilder das Vergangene noch bezeugen. So zum Beispiel an der Stelle des einstigen „Schuhmarktes“. Viele dieser Orte haben ihre damalige Funktion gewechselt, so etwa auch das ehemalige Arbeitshaus in der Mainzer Gasse. Einige sind Ausflugsziel geworden, wie zum Beispiel der „Spiegelslustturm“. Es galt für uns diese Orte in ihren damaligen Formen gegenwärtig werden zu lassen.

dbav0220-IIIWir setzten uns dazu zunächst mit den großen Wellen der Kultur- und Sozialgeschichte auseinander- der Industrialisierung, dem Pauperismus, der Preußenzeit, um schließlich zu betrachten, wie diese bis zum einfachsten Alltagsleben hin durchsickerten. Welche Auswirkungen hatten die Unruhen der Epochen für das Kinderkriegen? Wie prägten Hungersnöte den Alltag eines Dienstmädchens und wie veränderte sich das Handelswesen jüdischer Kaufleute im Zuge der Industrialisierung? Auch das Entfliehen aus der Härte dieses Alltags spielte eine zentrale Rolle, wie etwa in der Gestalt des Alkoholismus oder während der Ausgelassenheit bei Festen und Feiern. Aber auch im gänzlichen Abschiednehmen von der Heimat im Zuge der Auswanderung. Auch der Alltag jener Menschen, welchen die Teilnahme am öffentlichen Leben gänzlich verwehrt blieb, sollte Beachtung finden: der Alltag von Häftlingen hinter den Mauern des Arbeitshauses.

Wo nun aber finden sich Zeugnisse all dessen? Das Einfache gilt selten als erwähnenswert. -Und doch wird auch das Alltägliche transportiert: in Form von Schrift, Bildern und Objekten.

Archivrecherchen sollten Aufschluss geben. In den Akten aus dem Staats- und Stadtarchiv konnten wir Spuren des Alltagslebens finden. Meist zwar war es mehr das Außergewöhnliche, welches zu Papier gebracht wurde- Das, was den Rahmen des Alltags sprengte: Wie etwa Aufstände, Beschwerden, Regelverstoße- Doch auch Dokumentationen solcher Art ließen Alltägliches durchscheinen. Hinzu kamen bürokratische Regelwerke oder privat verfasste Briefe – beides Zeugnisse damaligen Alltags.

dbav0220-Austellung-IVEine Hürde, welche nach dem Fund einer vielversprechenden Akte jeweils bevor stand, war die alte deutsche Schrift, die zunächst einer verzwickten Übersetzung bedurfte. Da hieß es Zähne zusammenbeißen oder – noch einmal in der Universitätsbibliothek nachschauen, ob sich nicht vielleicht doch schon ein anderer zuvor diese mühevolle Arbeit gemacht hatte. Von uns allen begehrt waren hingegen zeitgenössische Fotografien. Sie machten Vergangenes schnell vorstellbar und galten darüber hinaus als authentisches Zeugnis. Vor allem dann, wenn man selbige großformatig, in Farbe und in hoher Auflösung vorliegen hatte. Dass das Medium der Fotografie im 19. Jahrhundert gerade erst am Entstehen war, die Motive schwarz-weiß waren und vermehrt Portraits der Oberschicht anstelle geselliger Alltagsszenen darstellten, machte jedoch auch diesen Teil der Suche nicht einfacher. Wir wollten die Alltagsobjekte selbst sprechen lassen.

Haptisches aus der Zeit sollte uns und den Museumsbesuchern den Alltag nahe bringen. In Folge einer Exkursion in das Museum von Oberrosphe wurden einige unserer Themen mit zeitgetreuen Gegenständen bestückt. Und auch das Museum für Kunst- und Kulturgeschichte war für gesuchte Exponate eine Anlaufstelle. Fehlendes konnte sich außerdem immer wieder überraschend in den privaten Sammlungen von Marita Metz-Becker und Siegfried Becker auffinden lassen. Manches dieser beigeschafften Alltagsgegenstände jedoch hielt kritischen Blicken nicht stand. „Zu neu“ hieß es dann, „das gehört längst ins 20 Jahrhundert“. Oder aber- der begrenzte Vitrinen-Platz reichte für das Gefundene plötzlich nicht aus. Es galt also immer wieder: prüfen, auswählen, beschränken, zusammenfassen. Auch auf den Texttafeln wurde das zu Sagende von vorgegebene Zeichenzahlen beherrscht.

Tafeln zur Ausstellung 'Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert'. Sternbald-Fotografien von Hartwig Bambey

Typografisch gestaltetete Tafeln zur Ausstellung ‚Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert‘. Sternbald-Fotografien von Hartwig Bambey

Auch wenn wir den alltäglichen Rahmen, die Fülle der vielen alltäglichen Bilder darstellen wollten, blieben uns letztlich doch bloß einzelne Ausschnitte. So können wir bloß in Fragmenten erzählen, was zwei Jahrhunderte zuvor volle Lebenswirklichkeit war. Und doch prägen auch diese Fragmente unsere heutige Vorstellung mit und lassen den damaligen Alltag aufleben. Begehen wir heute die historischen Orte, hat sich das Vergessene mit Bildern gefüllt. Laufen wir in unserem Alltag über den Marktplatz, – bspw. wenn wir hier ins Haus der Romantik zu einer Ausstellungseröffnung kommen -, können wir uns nun das damalige Markttreiben vorstellen. Und wenn wir unser Vorlesungsverzeichnis, das unseren studentischen Alltag heute prägt, sehen, kommt uns nun vielleicht jenes des 19. Jahrhunderts in den Sinn.

dbav0220-Ausstellungstafel-AusschnittWir verstehen: Alltag gibt es heute, wie es damals Alltag gab. Und auch, wenn er uns heute als Rahmen die Formen unseres Lebens anders lesen lässt, so können wir die damaligen doch übersetzen. Das Lehrforschungsprojekt hat uns einen Blick auf Vergangenes ermöglicht und uns gleichsam dazu geleitet, dieses neu zu vermitteln. Wir haben nicht nur einen anderen Blick auf den städtischen Alltag entwickelt, sondern bekamen gleichzeitig Einblicke in Möglichkeiten und Tücken der Museumsarbeit.

Lea Dorothea Diehl ist Studentin des Studiengangs Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaft B.A.

Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert

Cover Begleitband Marburger AlltagslebenAusstellung des Instituts für Europäische Ethologie / Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit dem Marburger Haus der Romantik
1.Februar – 31. Mail 2015, Dienstag bis Sonntag 11 – 13 und 14 – 17 Uhr
Marburger Haus der Romantik, Markt 16

Begleitband / Katalog zur Ausstellung:
Siegfried Becker / Marita Metz-Becker (Hg.): Marburger Alltagsleben im 19. Jahrhundert
Mit Textbeiträgen von: Siegfried Becker, Hella Brunsch, Mehmet Dasdemir, Lea Dorothea Diehl, Jonas Franck, Friederike Herfort, Dong-Hee Maeng, Marita Metz-Becker, Sonja Schürl, Andrey Trofimov, Erik-Lennard Vogler, Sergej Zilke

90 Seiten mit zahlreichen, teils farbigen Illustrationen.
Inhaltlich gegliedert gemäß der thematischen Struktur und Präsentation in der Ausstellung.
ISBN 978-3-00-048812-2 Verlag Marburger Haus der Romantik, Ladenpreis 9,80 Euro.

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