Marburger Irrwege – Projektscheitern, Wohnungsnot und der Vitospark
Ein Essay von Hartwig Bambey
Marburg 28.01.2016 – Am 6. März finden in Hessen und damit auch in Marburg Kommunalwahlen statt. Am Freitag, 29. Januar, gibt es die letzte Sitzung der Stadtverordneten in bisheriger Zusammensetzung. Danach stehen die üblichen Wahlkampfaktivitäten an. Wer allerdings von den Parteien einen – gar kritischen – Rückblick zu den zurückliegenden fünf Jahren und so etwas wie eine “Leistungsbilanz“ erwartet, dürfte wohl eine Enttäuschung erleben. Dabei wäre ein Rückblick geboten und es könnte der Versuch eines Resümees wichtige Erkenntnisse und Vergegenwärtigungen eröffnen. Dies gilt umso mehr als Bürger/in in Marburg nach zehnjähriger Wirkenszeit von und mit Oberbürgermeister Egon Vaupel (SPD) seit dem 1. Dezember 2015 mit Dr. Thomas Spies (SPD) ein neues direkt gewähltes Stadtoberhaupt im Amt findet. Die Frage wohin die Entwicklung der Kommune gehen soll und gelenkt wird, lässt sich valide nur in Kenntnis und Würdigung von Leistungen und Fehlleistungen der jüngeren Vergangenheit beantworten.
Es braucht dabei nicht unbedingt ein Erinnerungsgenie um zu vergegenwärtigen, dass im Kulturbereich eine Reihe von Chimären nachwirken. Herausragend sind inzwischen 40 Millionen als Bausumme für das umgebaute und erweiterte Erwin-Piscator-Haus, wie die Marburger Stadthalle nach ihrer Fertigstellung heißen soll. Ursprünglich mit 16 Millionen Euro veranschlagt, ist in diesem gewaltigen Betrag nicht einmal die Umfeldgestaltung zur Biegenstraße mit dem Hörsaalgebäude gegenüber einbezogen, wobei zudem fehlende Parkplätze (Tiefgarage) für bis zu 1.600 zeitgleiche Besucher anzumerken sind. Vor allem jedoch die erfolglose Weltkulturerbebewerbung, die Phantomdebatte um einen Schloßaufzug samt vermeintlicher Millionenspende, inzwischen von den Erben des verstorbenen Milliardärs Dr. Reinfried Pohl wieder zurückgefordert, und die Chimäre einer Bundesgartenschau in Marburg im fernen Jahr 2029 sind fehlgeschlagene “Projekte“ der sich gerne kulturbeflissen gerierenden Stadtpolitik der letzten Jahre.
Dabei geht es der Stadt Marburg ökonomisch gut. Rund 5.000 Arbeitsplätze bei den prosperierenden Pharmafirmen in der Nachfolge der Behringwerke, mehr als 26.000 Studierende an der Philipps-Universität und das wegen der Privatisierung zwar umstrittene aber zugleich stabile Uniklinikum sind samt nicht geringer Investitionen und Aktivitäten der DVAG-Pohlfamilie Strukturfaktoren, von denen die Stadt getragen wird – inklusive wachsender Gewerbesteuereinnahmen. Zugleich und in merkwürdiger Abweichung zu dieser Prosperität mit Zuwachs von vielen Tausend Studierenden hat die Stadt krasse Einwohnerverluste zu verkraften und ist deutlich unter die Marke von 80.000 WohnbürgerInnen abgerutscht. Dies korrespondiert, ja korreliert mit einer signifikanten Wohnungsnot in der Universitätsstadt. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware in Marburg und sorgte für beträchtliche Abwanderungen ins Umland.
Neoliberale Wohnungspolitik sorgte für Wohnungsnot und Abwanderung
Eine verfehlte, weil neoliberal angelegte Wohnungspolitik zu Gunsten eines profitabel gemachten Wohnungsbaus in Investorenhand mit Stadtvillen und Appartementanlagen für zahlungskräftige Bevölkerungsteile und Anleger hat nicht geringe Folgen und Flurschäden hinterlassen. Es bedurfte energischer und anhaltender Kritik von Initiativen und Aktivitäten aus der Bürgerschaft zur grassierenden Wohnungsnot, bis Oberbürgermeister und die Sozialdemokraten wach gerüttelt waren und nach jahrelangem Nichtstun dann hektische Aktivitäten an den Tag legten. Ein Runder Tisch und eine in Auftrag gegebene Wohnungsmarktstudie ließen viele Defizite sichtbar werden, darunter eine sogenannte „Baulandknappheit“, die nicht als Folge unterlassener und fehlgeleiteter Stadtpolitik begriffen wurde. In klassischer Verbrämung von Ursache und Folgen wurde kolportiert, in Marburg fehle es an Grund und Boden, um hinreichend Wohnraum bauen zu können.
Im Kontext einer seitens der Stadtpolitik in Marburg seit vielen Jahren bewußt unterlassenen Stadtentwicklungsplanung ist es in vielen Bereichen zu Problemen gekommen. Kurzsichtige Projektorientierung betreibt dabei auch die Philipps-Universität, die – bei gegebener Abhängigkeit vom Land Hessen und dessen Mittelzuweisungen – eine vermeintlich weitsichtige zweiläufige Campusplanung auf den Lahnbergen/Naturwissenschaften und im Lahntal/Geisteswissenschaften umsetzt und dabei signifikant zu kurz springt und sich mit Investitionen in der Größenordnung von 500 Millionen Euro zugleich neue (Kapazitäts-)Probleme schafft. Dabei wird das Kulturdenkmal Alter Botanischer Garten im Rahmen der Entwicklung des Campus Firmenei im Bereich der Elisabethkirche viel zu eng mit Baulichkeiten umzingelt und erdrückt. Auf die – jahrzehntelang vernachlässigten und vorgeblich zum Abriß bestimmten – Hochhaustürme der PhilFak kann die Uni gleichwohl nicht verzichten. Ob das Konzept einer Zentralbibliothek mit dem 108 Millionen Euro verschlingenden Neubau am Standort der früheren Frauenklinik und des abgebrochenen Schwesternwohnheims hinreichend ist und funktionieren kann, muss die Zukunft erweisen.
Politik und Stadtentwicklung geht zu Lasten der Substanz
In vielen Bereichen zehrt solchermaßen die in Marburg stattfindende Stadtentwicklung und die sie tragende Politik von der Substanz. Sollten die Verantwortlichen und Akteure der Stadt Marburg der Universität aufzeigen, wie und wo zukunftsorientierte Entwicklung sich zu entfalten hat, so versag(t)en sie bei eigenen Maßnahmen ebenso. Dies offenbart das Faktum der Wohnungsnot nur zu deutlich. Jahrelange Fehlorientierung und Unterlassungen lassen sich nicht einfach und kurzfristig korrigieren. Zudem würde dies eine wirkliche Umorientierung mit tragfähigen Perspektiven erfordern. In der Wohnungsdiskussion sollten offenbar zunächst Kritiker zum Schweigen gebracht werden, anstelle sie im Rahmen des städtischen Runden Tisches wahrhaftig und konstruktiv einzubinden.
Eine außerordentliche Förderung des Landes in Höhe von 24 Millionen Euro mit Fristbindung muss jetzt vordringlich die Gestalt von bezahlbarem Wohnraum annehmen. Das gelingt jedoch der damit betrauten landeseigenen GWH nur mühsam. Die Wohnungsbaugesellschaft setzte zunächst auf Nachverdichtung. Dies sollte langwierige Planungsverfahren und den Erwerb von Baugrund überflüssig machen. Doch diese Kalkulation ging nicht auf. Anlieger, besonders am Richtsberg, legten sich quer und sagten nein. So wurde die Stadt eingeholt von der „Baulandknappheit“ – weiterblickende Szenarien und eine perspektivische Baulanderschließung / Baurechtsetzung fehlen. Hinzu kommen Rücksichtnahmen, zum Beispiel auf Landwirte in Cappel, deren beachtliche Freiflächen in gut bebaubarer und erschlossener Ortslage nicht in Anspruch genommen werden.
Nach Scheitern von Quartierverdichtung Eingriff in Kulturdenkmal
Jetzt ist die Not groß und wird durch mehr als 1.000 in Marburg unterzubringende Flüchtlinge zusätzlich verschärft. Weil sich Bewohner am Richtsberg, mitgetragen vom Ortsbeirat, gegen eine Vielzahl von Neubauten als Quartierverdichtung seitens der GWH erfolgreich zur Wehr setzten, soll nunmehr der baumbewachsene südwestliche Teil des Vitos-Geländes an der Cappeler Straße baurechtlich umgewidmet werden. Eine in den vergangenen vier Jahrzehnten gewachsenes Waldfläche soll gefällt werden, um Raum für Wohnbebauungen zu schaffen. Dagegen haben sich viele kritische Stimmen zu Wort gemeldet. So sehen die örtlichen Agendagruppen schädliche Eingriffe in die Gesamtanlage, die sich als Kulturdenkmal in der Denmaltopographie gewürdigt findet. Klimaschutz- und Naturschutzgründe tragen andere BürgerInnen energisch dagegen vor. Trotz einer intensiven Diskussion hat sich die Rot-Grüne Rathausmehrheit nicht davon abringen lassen, eine Änderung des Bebauungsplanes im Dezember zu beschließen.
Gegen eine Wohnungsbebauung in diesem Bereich will eine Bürgerinitiative nunmehr ein Bürgerbegehren starten. Sie hat die dafür notwendige Zahl von Unterschriften gesammelt und vorgelegt. Der neue Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies zeigt sich, wie sein Amtsvorgänger Egon Vaupel, davon unbeeindruckt. „Ich halte das Bürgerbegehren für keinesfalls zulässig“ lautet das Votum des neugewählten Stadtoberhaupts. Damit handelt der neue Marburger OB genau gegenteilig zu dem von ihm vorgetragenen Bekenntnis für mehr Bürgerbeteiligung, aus seinem Mund zu vernehmen vor wenigen Tagen beim Neujahrsempfang der Stadt Marburg. Die Bürgerinitiative hat als nächsten Schritt bereits eine Klage angekündigt.
Stadtpolitik verspielt Vertrauen und ignoriert Bürgerwillen
Es droht der Stadt Marburg damit womöglich ein Rechtsstreit, der zunächst einmal viel Zeit kosten kann. Vor allem jedoch kompromittieren sich die Verantwortlichen und verspielen Vertrauen. „Mehr Bürgerbeteiligung“ war und ist bei SPD und GRÜNEN in Marburg eine gerne und häufig bekundete Maxime. Dem wird jedoch im konkreten Verhalten diametral entgegen gehandelt. 3.000 vorgelegte Unterschriften sollen ignoriert und übergangen werden. Nicht genug damit, es wurde den Aktiven für ein Bürgerbegehren vorgehalten, sie würden den Bau von dringend benötigten Wohnungen verhindern. Dass mit dem Bürgerbegehren alternative Standorte benannt worden sind, dass ein naturschutzrechtliches Gutachten für diesen Bereich fehlerhaft erstellt wurde, wird von der Stadtpolitik ignoriert.
So stellen sich in Marburg vor der Kommunalwahl gravierende Fragen. Fehler und Versäumnisse der vergangenen Jahre werden beharrlich ignoriert. An einer überheblichen Einstellung zu ernsthafter gelebter Beteiligung und Einbringungen aus der Bürgerschaft wird festgehalten. Bürgerschaftliches Engagement soll mit fragwürdigen rechtlichen Argumentationen kalt erledigt werden.
Gleich zum Jahresanfang droht erneut ein fundamentaler Irrweg – mehrfaches Projektscheitern, Wohnungsnot als Ergebnis unterbliebenen städtischen Handelns sollen kompensiert werden – koste es noch so viel Vertrauen in die Politik und den Bestand eines wertvollen Waldstücks im Stadtgebiet.
Politische Kultur geht anders, mit derartigem Durchpauken von Wohnungsbau am Zentrum für soziale Psychiatrie wird sie heftig beschädigt.