Marburger Bausystem in herausragendem Architekturbuch gewürdigt – Offenheit als Prinzip
Rezension von Hartwig Bambey
Marburg 16.02.2016 „Die Universitätsgebäude in Marburg, die mit dem Marburger Bausystem errichtet wurden, sind akut in ihrem Bestand bedroht. Obwohl sie unter Denkmalschutz stehen, plant die Universität den Abriss des größten von ihnen, das Gebäude des ehemaligen Fachbereichs Chemie für 2020. Präsidentin Krause sieht keinerlei Möglichkeit einer Sanierung und anderweitigen Nutzung.“ Mit diesem Satz endet der relativ knappe Beitrag in Wikipedia (Abruf 16.2.2016 – 13.38 MEZ) „Marburger Bausystem“ und bringt damit ein Phänomen und Dilemma aus Marburg auf den Punkt. Für den ursprünglichen Campus Lahnberge wurde ein eigenes modulares System entwickelt und angewendet, das als das „Marburger Bausystem“ in die Architekturgeschichte eingegangen ist. Doch nach der Ursprungsbebauung in den sechziger und frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, i.W. Hochschulbauamt, Chemie, Biologie, Mehrzweckgebäude und Gebäude Botanischer Garten hat man sich in Marburg – nach einer langen Phase stagnierenden Ausbaus der Uni Lahnberge – von diesem bis hin zu den Laborschränken durchentwickelten und modularisierten Systembau abgewendet. Nach 50 Jahren gibt es Mängel, zu denen unterbliebene Instandhaltung das ihre beigetragen haben wird. Zugleich wurden wesentliche Gebäude des Marburger Bausystems im Jahr 2013 unter Denkmalschutz gestellt. Damit ist ein Spannungsbogen zwischen der Wahrnehmung vor Ort, vorneweg die Universitätsleitung, und überörtlicher Rezeption und Wertschätzung markiert.
Einen späten substantiellen Beitrag zur Wahrnehmung und Vergegenwärtigung der entwurflichen und baulichen Leistungen bei dem zügigen Ausbau der Naturwissenschaften auf den Lahnbergen leistet die großformatige Buchpublikation der Architektin, Architekturhistorikern und Hochschullehrerin Dr. Silke Langenberg (Zürich) mit dem programmatischen Titel ‚Das Marburger Bausystem – Offenheit als Prinzip‘ aus dem Jahr 2013. Auf 208 Seiten in großzügigen 24 x 32 cm im Leineneinband mit Fadenheftung gelingt es dem mehrteiligen Werk adäquate Vorstellungen zur Eigenart, Entstehungsbedingungen und Verwirklichung der zahlreichen Systembauten auf den Lahnbergen beim Leser zu wecken. Nach Textdarstellungen, zweisprachig auf deutsch und englisch, auf 40 Seiten mit dokumentarischen Fotografien vom Bau folgt ein technischer Katalogteil von 24 Seiten, in dem Grundrisse, Ansichten, Schnittdarstellungen und Detailzeichnungen der Bauweise vom Großbau bis zur normierten Einrichtung der Laborteile (aus der damaligen Dokumentation) publiziert werden.
Den opulenten Hauptteil des Werkes füllt eine umfangreiche fotografische Würdigung vieler Gebäude der ursprünglichen Institute des Campus Lahnberge. Tania Reinecke und Ekkehard Bussenius setzen mit herausragenden Fotografien der Biologie und Chemie, anderen Gebäuden bis hin zum Fernheizwerk ein visuelles Denkmal. Die vom Werkstoff Beton geprägte Architektur, Material- und Formensprache setzt diese gelungenen und spannungsreiche Architekturfotografie exzellent in Szene.
Den vierten Buchteil leitet ein mehrseitiger Textbeitrag von Prof. Helmut Spieker (ETH Zürich) ein, der das Marburger Bausystem entwickelt und die bauliche Umsetzung in Marburg geleitet hat. Ein Interview mit Helmut Spieker, Bibliografie und Quellennachweis vollenden dieses verdienstvolle Buch, das im Schweizer Verlag Niggli erschienen ist.
„Die achitektonische Qualität der in den 1960er Jahren auf den Marburger Lahnbergen errichteten Bauten, ihre konstruktive Konsequenz bis ins Detail, die technische Innovation der seriellen Herstellung von Bauteilen in einer Feldfabrik auf dem Bauplatz und die ihr vorangegangene planerische Leistung zur Typisierung aller Bauteile ist bemerkenswert. Ihr grundsätzliches Prinzip der Offenheit birgt langfristig Potential, was die Lebensdauer der Objekte deutlich verlängern kann, wenn die bestehenden baulichen Mängel erst einmal behoben sind. Die Vorzüge der Bauten, des ihnen zugrund liegenden Systems und der die Entwicklung ursprünglich bestimmenden Konzepte sind vielleicht nicht offensichtlich, bei genauerer Betrachtung aber unbestreibatr. Sie können und sollten genutzt werden.“
Mit diesen Gedanken am Schluss des Textteils gibt Herausgeberin Langenberg einiges zu bedenken. In der Konsequenz ihrer Bewertung des Marburger Bausystems hat sie Studierenden die Projektaufgabe vergeben über eine Nachnutzung und Umbauten des inzwischen leer stehenden Chemie-Gebäudes zu arbeiten. Die Ergebnisse wurden in Marburg kürzlich öffentlich präsentiert. Nicht alleine der Denkmalschutz gebietet ein Nachdenken über den Erhalt relevanter Gebäude des Marburger Bausystems. Einen hervorragender Zugang zum Thema und dessen Dimension ist mit dem Buch nunmehr jedermann und -frau zugänglich.
Offenheit als Prinzip – Das Marburger Bausystem
herausgegeben von Silke Langenberg
mit Fotografien von Tania Reinicke und Ekkehart Bussenius
mit Beiträgen von Andreas Wirth und Helmut Spieker
208 Seiten, gebunden in Leinen, 24 x 32 cm
Niggli Verlag, ISBN 978-3-7212-08822-5
Ladenpreis 54,00 Euro