Das Marburger Bausystem – Die Herstellung der Gebäude auf den Lahnbergen waren eine wegweisende Entwicklung im Bauwesen
Marburg 22.02.2016 (red) Marburg ist eine Stadt mit sehr vielen Denkmälern. Landgrafenschloss und Oberstadt, das Südviertel, Biegenstraße und Deutschhausstraße und zahlreiche Universitätsbauten prägen das Bild einer historisch gewachsenen Stadt. Im Jahren 2013 sind eine Reihe von Bauwerken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit der Erweiterung der Philipps-Universität in den sechziger und frühen siebziger Jahren, als Denkmäler klassifiziert worden. Dazu gehören mehrere Gebäude aus der Erweiterung der Universität auf den Lahnbergen zur Schaffung eine naturwissenschaftlichen Campus. Damit haben typische bauliche Zeugnisse des überörtlich so bekannt gewordenen „Marburger Bausystems“ Denkmalwürdigkeit gefunden. Dazu zählen die Institutsgebäude der Biologie und Chemie. Inzwischen ist für die Chemischen Institute ein großformatiger Neubau in Betrieb genommen worden. Damit steht der große Baukörper der Marburger Chemie leer. Von Seiten der Universität gibt es wenig oder gar keine Überlegungen für eine Nachnutzung dieses Baudenkmals. Die Lokalen Agendgruppen haben versucht ein Nachdenken und eine positive Meinungsbildung für eine Nachnutzung zum Erhalt in Gang zu setzen. Die Architekturhistorikerin Prof. Langenberg, Herausgeberin einer umfassenden Würdigung und Dokumentation des Marburger Bausystems als Buch, hat maßgeblich zur Vergegenwärtigung dieser Potentiale beigetragen. Im Interview erläutert sie ihre Motive und beschreibt mögliche Perspektiven.
Seit wann und warum beschäftigen Sie sich mit dem Marburger Bausystem, Frau Prof. Langenberg? Und warum interessieren Sie sich dafür?
Im Rahmen meiner Dissertation an der TU Dortmund habe ich mich mit „Bauten der Boomjahre“ beschäftigt. Es ging um architektonische Konzepte und Planungstheorien der 1960er und 1970er Jahre – genauer gesagt um Optimierungs- und Rationalisierungsstrategien. Eine der Bauaufgaben, die ich dabei beispielhaft untersucht habe, waren Hochschulgebäude. Das Marburger Bausystem war besonders interessant für mich, da die auf dem Bauplatz errichtete Feldfabrik und die Herstellung der Gebäude auf den Lahnbergen damals eine wegweisende Entwicklung im Bauwesen darstellten.
Als ich im Jahr 2006 eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich angenommen habe, lernte ich dort bei einem meiner ersten Besuche Ende des Jahres 2005 den Entwickler der Marburger Bausystems Helmut Spieker kennen, welcher viele Jahre als Professor am Departement Architektur der ETH tätig war und noch immer in Zürich wohnte. Aus einem ersten Gespräch über das Bausystem hat sich eine jahrelange Freundschaft entwickelt. Irgendwann habe ich die Idee geäußert, eine neue Publikation über das Marburger System zu machen, um die Qualitäten der Bauten zu zeigen und für seine Besonderheiten zu sensibilisieren. Hierfür stellte mir Helmut Spieker seine alten Unterlagen zur Verfügung. Auf seinem Dachboden gab es auch noch alte Modellfotos der Systembauten und Zeichnungen seiner Diplomarbeit, auf dem die Idee des Marburger Systems ja gegründet ist.
Was hat Sie veranlasst ein Projekt mit einer studentischen Arbeitsgruppe zu initiieren?
Die zukünftige Architektengeneration wird sich verstärkt mit dem Thema Bauen im Bestand auseinandersetzen müssen und ihre Aufgaben werden vor allem auch die in den ersten Nachkriegsjahrzenten in Deutschland errichtete Baumasse betreffen. Die vielen, in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland errichteten Bauten stellen mittlerweile ein Problem dar, da sie nahezu gleichzeitig in die Phase ihrer baulichen Erneuerung kommen. Gleichzeitig ist die Akzeptanz dieser Architektur in der Gesellschaft nicht unbedingt hoch – was durch die schlechte Alterung vieler Bauten und fehlendes Hintergrundwissen noch verstärkt wird.
Die Diskussionen in Marburg, die um den Erhalt der Systembauten auf den Lahnbergen geführt werden, sind in gewisser Weise beispielhaft. Auf der einen Seite gibt es die Nutzer, die seit Jahren Probleme mit den Bauten haben – auf der anderen Seite stehen an Baukultur Interessierte, die den historischen und wissenschaftlichen Wert der Bauten kennen, schätzen und die Gebäude erhalten wollen.
Die Aufgabe, in diesem Spannungsfeld Projekte für eine Nachnutzung und einen Umbau der Chemischen Institute auf den Lahnbergen zu entwickeln, erschien mir für die Studierenden interessant und lehrreich.
Gab es dazu Kontakt mit der Leitung der Philipps-Universität, war man daran interessiert?
Selbstverständlich habe ich bereits im Vorfeld Kontakt zur Leitung der Philipps-Universität und zum Bauamt aufgenommen. Wie bereits im Jahr 2009, als die fotografischen Aufnahmen für die Buchpublikation entstanden sind, wurde ich in Marburg sehr freundlich empfangen und der Zugang zu den Gebäuden auch am Wochenende ermöglicht. Ein persönliches Treffen mit der Hochschulleitung kam bislang allerdings leider noch nie zustande.
Nach Abschluss des Projektes habe ich der Präsidentin der Philipps-Universität die Entwürfe zugesendet. Wie ich der Presse entnommen habe, wurden sie als Denkanregungen durchaus positiv aufgenommen, wenn auch die Vorschläge zum studentischen Wohnen auf dem Campus kritisch gesehen werden.
Was ist der gemeinsame Nenner der Projektarbeiten? Hatten die Studierenden eine Vorgabe von Ihnen?
Die Studierenden habe bewusst keine Vorgaben zur Nutzung der Bauten bekommen oder dazu, wie viel Bausubstanz sie erhalten sollen. Es war mir wichtig, die Studierenden selbst überlegen zu lassen, welcher Bedarf auf den Marburger Lahnbergen bestehen könnte. Dass so viele Vorschläge für studentisches Wohnen kamen hat mich selbst überrascht. Ich denke, der Grund hierfür war die eigene Situation der Studierenden, welche in einer Stadt wie München selbst große Probleme haben bezahlbaren Wohnraum zu finden und sich einfach persönlich mehr Studentenwohnheime wünschen. Die Studierenden haben sich im Vorfeld aber auch viel mit der geschichtlichen Entwicklung von Hochschulbauten beschäftigt und wussten daher um das Problem von Campusuniversitäten ohne ausreichende Infrastruktur.
Ansonsten habe ich bei der Betreuung der Entwürfe natürlich versucht, die Studierenden bei der Entwicklung denkmalverträglicher Lösungen zu unterstützen. Einige Arbeiten sind in der Hinsicht vorbildlich – andere nehmen meiner Meinung nach zu wenig Bezug zur ursprünglichen Gestaltung der Bauten.
Studentisches Wohnen, Bibliothek, ein Supermarkt und verschiedene Kommunikationsräume finden sich in den Arbeiten als neue Nutzungen thematisiert. Lassen sich solche Nutzungen ohne Probleme verwirklichen? Welche Probleme müssten gelöst werden?
Meiner Meinung nach sind die hochschulnahen Nutzungsvorschläge wie Bibliothek oder Arbeitsräume am realistischsten, da sie dem zugrundeliegenden System entsprechen. Dessen Maße sind ja im Hinblick auf solche Nutzungen optimiert – auch wenn das System bereits für andere Bauaufgaben genutzt wurde – beispielsweise für eine Autobahnraststätte.
Vorschläge zum studentischen Wohnen oder die Einrichtung eines Supermarktes kommen eher aus einer Bedarfsanalyse für den Campus, als dass sie bautypologisch begründet wären.
Probleme bei der Umsetzung der Ideen sind meiner Meinung nach vor allem bauphysikalischer Natur. Hier müsste einmal eine sinnvolle Standard-Lösung entwickelt werden, die dann möglichst für alle Systembauten auf den Lahnbergen angewendet werden kann. Das würde wiederkehrende Kosten reduzieren und helfen, den Gesamtbestand zu sichern. Dazu würde ich sehr gerne mal eine Lösung zusammen mit der Hochschulleitung und dem Denkmalamt erarbeiten.
Entscheidungen über Wohnen auf dem Campus sind grundsätzlicher Natur und müssten meiner Meinung nach auf städtebaulicher und politischer Ebene geführt werden. Dazu kann ich nichts sagen.
Verschiedene Bauten des Marburger Bausystems stehen inzwischen unter Denkmalschutz. Haben Sie den Eindruck, dass man in Marburg, zuallererst seitens der Philipps-Universität, gefolgt von der Stadt Marburg und der Öffentlichkeit, dieses moderne bauliche Erbe angemessen wahrnimmt?
Ich glaube, dass sich die Stadt Marburg und auch die Öffentlichkeit der Bedeutung der Systembauten auf den Lahnbergen mittlerweile bewusst ist. Die Unterschutzstellung hat sicher dazu beigetragen, die Bauten mit anderen Augen zu sehen und sie zu hinterfragen.
Die Stadt hat damals meine Publikation auch finanziell ein wenig unterstützt. Das hätte sie sicher nicht gemacht, wenn sie kein Interesse an den Bauten und ihrer Geschichte hätte.
Was die Leitung der Philipps-Universität angeht, scheinen die Gebäude weniger wertgeschätzt zu werden. Vielleicht überwiegen dort aber auch einfach derzeit die Probleme und Kosten der notwendigen baulichen Instandsetzung. Dass man sich des bauhistorischen Wertes nicht bewusst ist, kann ich mir nicht vorstellen.
Was die wirklichen Nutzer, also die in den Institutsbauten langjährig tätigen Wissenschaftler und Studierende angeht, so kann ich sagen, dass ich nach Erscheinen meines Buches einige Zuschriften erhalten habe, in denen die Bauten sehr positiv beschrieben wurden und die sich über die Würdigung durch den Denkmalschutz und die Buchpublikation gefreut haben.
Bei der Durchsicht der Projektarbeiten wird deutlich, dass eine Verwirklichung Chancen für die Campusentwicklung auf den Lahnbergen bedeuten kann. Zudem würde der Chemie-Gebäude eine neue sinnvolle Nutzung erfahren.
Was müsste und sollte geschehen, um eine weitergehende Meinungsbildung zu initiieren?
Momentan habe ich das Gefühl, dass in Marburg gegeneinander gearbeitet wird. Es wäre schön, wenn ein Dialog zustande käme und gemeinsam an einer langfristigen Lösung für die Entwicklung des Campus Lahnberge gearbeitet würde, welche von der weitgehenden Erhaltung der ursprünglichen Bauten ausgeht. Dazu ist aber ein Aufeinander-Zugehen beider Seiten und Verständnis füreinander notwendig: Die Probleme der Hochschulleitung mit den Bauten müssen ernst genommen werden – auf der anderen Seite ist es nicht sehr konstruktiv immer wieder Abbruchanträge für geschützte Baudenkmäler zu stellen.
Dass eine Umnutzung mit Umbauten, teilweise Rückbauten, möglich wäre, liegt nun auf dem Tisch. Wie schätzen Sie die Kostenseite ein, ist es kostengünstiger die Substanz mit Umbauten weiter zu nutzen als neu zu bauen?
Ich bin keine Bauökonomin – aber wenn eine ganzheitliche Kostenabschätzung gemacht werden würde, die auch die graue (also die in den verbauten Materialien gespeicherte) Energie berücksichtigt, so kann ein Neubau eigentlich nicht günstiger sein als eine Erhaltung der bestehenden Bauten – weder aus ökonomischen, noch aus ökologischen Gründen.
Da die Systembauten modular aufgebaut sind, dürfte außerdem ein Rückbau bis auf den Rohbau verhältnismäßig einfach und kostengünstig möglich sein. In diesem Fall würde man im Vergleich zum Neubau immer die Kosten für Erdarbeiten und den kompletten neuen Rohbau sparen.
Die Marburger Systembauten sind ursprünglich dafür entwickelt worden, erweitert und umgebaut zu werden. Das sollte man jetzt vielleicht einfach mal machen. Die Philipps-Universität könnte, wie in den 1960er Jahren, noch einmal führend und wegweisend im Bereich des Hochschulbaus sein, wenn sie nun einen nachhaltigen und beispielhaften Umgang mit ihrem Baubestand zeigt. Ich würde sie gern gemeinsam mit dem Denkmalamt bei der Entwicklung eines langfristigen und nachhaltigen Konzeptes unterstützen.
Zur Person
Dr.-Ing. Silke Langenberg ist ordentliche Professorin für Bauen im Bestand, Denkmalpflege und Bauaufnahme an der Hochschule München. Zuvor war sie viele Jahre an der ETH in Zürich tätig, zuletzt im Fachgebiet Architektur und Digitale Fabrikation. Ihr Hauptforschungsinteresse gilt Versuchen zur Optimierung der Planung und Rationalisierung von Bauprozessen, Fragen der Entwicklung, Reparatur und langfristigen Erhaltung von Systembauten, digital fabrizierten Konstruktionen und größeren Baubeständen. Silke Langenberg ist Mitglied von DOCOMOMO, im Vorstand von ICOMOS Suisse und des Fördervereins des Architekturmuseums der TU München. (www.silkelangenberg.com)
—>Buchbesprechnung Marburger Bausystem in herausragendem Architekturbuch gewürdigt – Offenheit als Prinzip