Zum Welttag des Buches am 23. April
Marburg 16.4.2016 Gastbeitrag von Ursula Wöll Colette las am liebsten im Bett, während ihre Katze eingerollt neben ihr schnurrte. Auf einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert wird ein Mönch lesend auf seiner Pritsche gezeigt. Um die Beine hat er eine Decke gewickelt, seine Stiefel auf einer Bank abgestellt. Gleich sechs Bücher eingemummelt im Bett zu lesen ist für ihn sicher das höchste Glück. Da offenbaren sie ihr reiches Innenleben ohne jede Ablenkung von außen. Ganz neue Welten tun sich beim Lesen auf, auch Gefühlswelten. Räumliche und geschichtliche Dimensionen werden gesprengt. Mehr Verständnis für die Verhaltensweisen anderer Leute entsteht. „Lies, um zu leben“, schrieb Gustav Flaubert 1857 an Mlle. de Chantepie. Auf den ersten Blick ein seltsamer Rat. Alberto Manguel erklärt ihn in seiner wunderbaren „Geschichte des Lesens“ mit eigenem Erleben: „Eher war es so, dass ich die Spiele und Gespräche meiner Mitschüler weit weniger aufregend fand als die Abenteuer und Gespräche in meinen Büchern.“
Ich erinnere mich an eine ähnliche Erfahrung. Vor Jahren verschlang ich im D-Zug von Budapest nach Frankfurt Fontanes „Effi Briest“ und würdigte die vorbeiziehende Landschaft keines Blickes. Eichendorff löste die Buchverrücktheit bei mir aus. Sein Text „Aus dem Leben eines Taugenichts“ prallte auf meine jugendliche Sehnsucht nach Horizonterweiterung. Wir waren arm, reale Reisen waren undenkbar. So machte ich eben Reisen im Kopf, las in Mathe unter der Schulbank weiter, bis ich den Taugenichts auswendig konnte. Der sonst so beherrschte Kafka meinte gar, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Lesen macht tatsächlich offener, liebevoller, toleranter. Und klüger. Denn heute gehören auch Sachbücher zu meinen Lieblingen. Zumal sie mittlerweile die Zusammenhänge anschaulicher erklären und ansprechender mit Zwischenüberschriften und Fotos gestaltet sind.
Vorgelesen zu bekommen ist fast ebenso schön. Nicht nur für das Kind, dem die Eltern eine Gutenachtgeschichte vorlesen. Heute, als Erwachsene muss ich mit dem Radio vorliebnehmen, das Weltliteratur in Fortsetzungen bringt. Da fehlt etwas wesentliches, nämlich das Gegenüber, dem die Stimme gehört und mit dem ich das Leseerlebnis teilen kann. Wie sehr die menschliche Fantasie nach Nahrung verlangt, erkennt man an den früher in manchen Fabriken anzutreffenden Vorlesern. Die Arbeiter mit monotonen Tätigkeiten wie das Zigarrenwickeln wählten gemeinsam einen Text aus und stellten einen ihrer Kollegen frei, der ihnen während ihrer Arbeit vorlas. Dessen Lohnausfall bestritten sie gemeinsam, so gierig waren sie auf das Lesefutter. Sie waren eben BUCHVERRÜCKT geworden.
„BUCHVERRÜCKT“ wählte das Deutsche Literaturarchiv in Marbach als Motto für sein Programm zum bevorstehenden Welttag des Buches am 23. April. Alle von ihm geplanten Veranstaltungen knüpfen in diesem Jahr an „Don Quijote von la Mancha“ an, der vor über 400 Jahren von Miguel de Cervantes geschrieben wurde und bis heute gegen Windmühlen reitet. Auch Erich Kästners Nacherzählung des Originals wird präsentiert, die für Kinder gedacht und als illustriertes Buch ein tolles und preiswertes Geschenk ist. Das Kästner-Werk kann man sogar online nachlesen, das umfangreiche Original selbst ebenfalls. Ich ziehe es vor, die Texte als Buch zu lesen, zum Beispiel im Bett. Übrigens, auch der originale Don Quijote ist als dtv-Ausgabe ein schönes und preiswertes Geschenk.
Warum Don Quijote? Am 23. April 1616, also vor genau 400 Jahren, starb dessen Autor Miguel de Cervantes nach einem wild bewegten Leben. Am 23. April 1616 starb auch William Shakespeare, wenn man die kleine Zeitverschiebung übersieht, verursacht durch den noch nicht in England gültigen gregorianischen Kalender. Zwei Heroen der Weltliteratur starben am gleichen Tag! Ein doppelter Grund also für die UNESCO, seit gut 20 Jahren jährlich am 23. April das Lesen durch den „Welttag des Buches“ zu feiern.
Speziell an diesem Tag wird die Lesefreude ganz praktisch gefördert. Wie in den Vorjahren geben die StiftungLesen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und viele Buchhandlungen ein kostenloses Kinderbuch in einer Auflage von 800 000 heraus. Die Aktion hat das Motto „Ich schenk Dir ein Buch“ und richtet sich an 9 bis 11jährige Kinder. Verfasst sind die Texte von bekannten Kinderbuch-AutorInnen, aktuell schrieb Annette Langen eine Geschichte mit dem Titel „Im Bann des Tornados“. Eine 30seitige Bildgeschichte fasst den Inhalt anschließend nochmals zusammen, so dass auch Kinder damit klarkommen, die noch nicht lange in Deutschland sind.
Verteilt werden die Gutscheine für das Buch über die Schulen. Leider ist der Anforderungstermin bereits verstrichen, so dass Lehrkräfte nur noch ein Paket mit 30 Exemplaren, didaktischem Begleitmaterial und Plakat zum Selbstkostenpreis von 37,50 Euro bestellen können. Manche Buchhandlung hat noch Bücher in Reserve.