Archivjubiläum und Unigeschichte im Nationalsozialismus und dessen Wirkungsgeschichte nach 1945
Marburg 20.4.2016 (pm/red) Seit zehn Jahren betreibt die Philipps-Universität Marburg ihr Archiv wieder selbst. Aus diesem Anlass lud das Universitätsarchiv am 18. April zu einer Vortragsveranstaltung in den Landgrafensaal des Hessischen Staatsarchivs Marburg ein. Den Festvortrag vor rund 130 Gästen hielt der Marburger Neuzeithistoriker Prof. Dr. Eckart Conze zum Thema „Lange Schatten – auch in Marburg? NS-Vergangenheit und NS-Belastung am Beginn des 21. Jahrhunderts“.
Dr. Andreas Hedwig, der Leiter des Hessischen Staatsarchivs, erläuterte in seinem Grußwort, wie es zur Selbständigkeit des Universitätsarchivs kam: „Vor zehn Jahren hatte sich die günstige Situation ergeben, dass Universität und Staatsarchiv aufeinander zugehen und eine Win-Win-Situation herstellen konnten. Das Staatsarchiv musste damals Stellen einsparen, die Universität hatte Stellen zur Verfügung. Dadurch konnten wir die personelle Basis für das Universitätsarchiv schaffen.“
Die Leiterin des Universitätsarchivs, Dr. Katharina Schaal, berichtete über die Entwicklung in den letzten zehn Jahren. Seit Februar 2010 ist das Archiv eine zentrale Einrichtung der Universität, auch wenn es im Staatsarchiv untergebracht ist. „Manchmal werden wir als ‚das Staatsarchiv‘ angesehen, interessanterweise vor allem aus der Perspektive der Universität selbst“, sagte Katharina Schaal. „Wir nutzen die Infrastruktur des Staatsarchivs mit“, erklärte Schaal. „Dazu gehören der Lesesaal, die Fotowerkstatt, die Kopierstelle, die Bibliothek und die Betreuung der Recherchedatenbank. Wichtig ist uns auch der unkomplizierte Austausch mit unseren Fachkollegen vom Staatsarchiv.“
Wertvolle Quellen für Forschung und Universität
Im Verlauf der Jahre sind die Bestände von 1.700 auf 2.250 laufende Regalmeter angewachsen. Ob Studierenden-, Promotions-, Personal- oder Berufungsakten – das Universitätsarchiv ist die Anlaufstelle für die Universitätsangehörigen, wenn es darum geht, Dienstakten zu archivieren. „Bevor nicht mehr benötigte Akten vernichtet werden, müssen wir eingebunden werden“, sagte Schaal. „Wir helfen auch dabei, überlaufene Aktenschränke in einem gesetzeskonformen und vor allem sinnvollen Verfahren zu leeren.“
Die Unterlagen lagern in zwei Magazinen in der Friedrichstraße. Darunter sind rund 500 historische Urkunden und die Siegelsammlung. „Das älteste Stück stammt aus dem Jahr 1270, ab dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts setzt dann die Urkundenüberlieferung ein“, erläuterte Schaal. „Die Aktenüberlieferung beginnt im Prinzip mit der Gründung der Universität 1527, wird aber erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und im späten 17. Jahrhundert dichter.“
Das Universitätsarchiv beschäftigt vier Mitarbeiter. Sie bearbeiten heute doppelt so viele Benutzeranfragen wie vor zehn Jahren. „Und das obwohl wir unser Rechercheangebot im Internet wesentlich erweitert haben“, berichtete Schaal. Das Team hat umfangreiche Aktenübernahmen durchgeführt, darunter bis dahin noch nicht abgegebene Akten der Zentralregistratur aus der Nachkriegszeit. „Auch die Übernahme der Matrikel und der Studierendenakten von 1945 bis 1971 war eine große logistische Herausforderung.“ Die Akten sind zum Teil in der Recherchedatenbank erschlossen und können online recherchiert und bestellt werden. Viele sind aber nach wie vor nur über Abgabelisten auffindbar. Dazu bedarf es der Nachfrage im Archiv. Die Urkunden und Teile der besonders häufig nachgefragten Matrikelbände sind inzwischen digitalisiert. „Auch die Matrikel-Originale von 1527 bis 1592 und von 1653 bis 1789 werden bald online einsehbar sein“, sagte Schaal.
Das Engagement der Mitarbeiter des Universitätsarchivs geht weit über die reine Archivarbeit hinaus. Seit Sommer 2012 ist das Team auch für den einstigen studentischen Karzer in der Alten Universität zuständig. Auch die Geschäftsstelle des Arbeitskreises Universitätsgeschichte ist im Archiv angesiedelt. Die Mitarbeiter beteiligen sich im Arbeitskreis Universitäre Sammlungen, im Kompetenznetz Forschungsdaten und im wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum. Auch an der Unesco-Welterbe-Bewerbung von Stadt und Universität arbeiteten die Archivare mit.
„Intensivere Auseinandersetzung mit der Universitätsgeschichte“
Das Universitätsarchiv dient auch der Erforschung der Universitätsgeschichte. Neuzeithistoriker Prof. Dr. Eckart Conze nahm in seinem Festvortrag die Zeit des Nationalsozialismus in den Blick und plädierte für eine intensivere Auseinandersetzung der Universität mit ihrer Vergangenheit. „Seit einigen Jahren wird in Deutschland wieder in großer Intensität über die nationalsozialistische Vergangenheit diskutiert“, sagte Conze. „Stärker als in früheren Jahrzehnten aber auch über die Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, den Umgang mit dem Dritten Reich und seinen Verbrechen sowie die Frage individueller und kollektiver NS-Belastung.“ Nicht nur Historiker, auch die breite Öffentlichkeit frage danach, was nationalsozialistische Vergangenheit und Belastung für die Entwicklung der Demokratie und freiheitlichen Gesellschaft in der Nachkriegszeit bedeuteten. Ministerien, Parlamente und Gerichte gerieten dabei ebenso in den Blick wie Universitäten.
Die Philipps-Universität solle sich, auch angesichts der hervorragenden Quellenüberlieferung im Universitätsarchiv, nicht nur mit ihrer Geschichte während der NS-Zeit, sondern auch mit der Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus und der Frage von NS-Belastung nach 1945 auseinandersetzen. Das betreffe die Universität insgesamt, aber auch einzelne Einrichtungen, Institute und Personen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Conze der Frage, was Wissenschaft und Öffentlichkeit heute unter nationalsozialistischer Belastung verstehen. Konstituiert bereits eine NSDAP-Mitgliedschaft eine Belastung? Was ist ein „überzeugter Nationalsozialist“? Muss nicht jedes Handeln, das zum Funktionieren des NS-Regimes beitrug, als Belastung gewertet werden? „Die universitätsgeschichtliche Forschung steht hier nicht am Anfang, kann aber von der jüngeren zeithistorischen Forschungsdynamik profitieren“, betonte Conze. Und das könne nicht ohne Folgen bleiben für die universitäre Erinnerungs- und Gedenkkultur im beginnenden 21. Jahrhundert.