Deutschland als Bordell Europas? – Veranstaltung über Prostitution und Menschenhandel
Marburg 11.5.2016 (pm/red) Bei der Informationsveranstaltung zur aktuellen Entwicklungen von Prostitution und Menschenhandel im Rathaus lautete die provokante Frage zum Auftakt: „Deutschland – Bordell Europas?“. Die Marburger Bürgerinitiative „bi-gegen-bordell“ hatte in Kooperation mit dem Gleichberechtigungsreferat der Stadt eingeladen. „Es ist ein sperriges Thema, das auch heute noch häufig verdrängt wird“, stellte Inge Hauschildt-Schön, die Sprecherin der Bürgerinitiative zu Beginn fest. Dies sei vielleicht auch an der Zahl der Besucherinnen und Besucher abzulesen – gerade einmal 30 Interessierte hatten den Weg in den Historischen Rathaussaal gefunden. Oberbürgermeister Spies bedankte sich bei der Bürgerinitiative für ihr Engagement und er dankte auch FIM (Beratung für Frauen in der Prostitution in Marburg), deren Sozialarbeiterinnen in Marburg Prostituierten-Hilfe anbieten: „Ich glaube nicht, dass das eine der leichteren Aufgaben in der Sozialarbeit ist. Dass Sie einen Zugang zu den Frauen gefunden und sogar schon Frauen den Ausstieg ermöglicht haben – das ist nicht selbstverständlich“, sagte der Oberbürgermeister.
Der OB erinnerte daran, dass es zum Thema Prostitution in Marburg eine außerordentlich heftige und engagiert geführte Debatte gegeben habe. Heute sei aber nicht mehr die Frage, ob das „Erotic Island“ hätte gebaut werden dürfen oder sie sei nicht entscheidend – die Herausforderung, der man sich stellen müsse, beträfe die Frauen, die dort arbeiten. „Hier sind wir in Marburg sehr viel weiter als an vielen anderen Stellen“, erklärte Spies und nannte die kostenlose, anonyme Sprechstunde für Prostituierte in der Frauenklinik und die mögliche Sozialberatung in denselben Räumen beispielhaft. Auch die Veranstaltung der Bürgerinitiative könne hoffentlich einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Elend von Prostituierten in Zukunft zu verbessern.
Wie viel Elend in diesem „Berufsstand“ tatsächlich herrscht, erzählte eine Aussteigerin. Huschke Mau war zehn Jahre lang in der Prostitution und kämpft seit zwei Jahren dafür, die „Realitäten im Milieu“ öffentlich zu machen, wie sie sagt. In einem offenen Brief an Familienministerin Manuela Schwesig fordert sie, „diese menschenunwürdige Prostitution“ zu verbieten. „Ich kenne keine Prostituierte, die das freiwillig macht“, so Mau. Sie habe schon als Kind sexuelle Gewalt erfahren und wurde traumatisiert. Sie persönlich habe in den zehn Jahren im Milieu keine andere Prostituierte kennengelernt, die nicht auch als Kind missbraucht und geschlagen oder als Erwachsene vergewaltig worden sei. Es gebe keine „saubere“ Prostitution und das Bild der „glücklichen Prostituierten“ sei ein Märchen, vertrat sie in der Diskussion ihre Position. Mit der Legalisierung mehre sich die Nachfrage und zudem werde die ganze Gesellschaft brutalisiert, weil die Männer das, was sie im Bordell gelernt haben, nämlich Frauen zu kaufen, verachten und zu quälen, mit nach Hause nähmen.
Der ehemalige Kriminalkommissar Manfred Paulus, Experte zum Thema Prostitution und Menschenhandel in Europa, bewertete den Begriff der „Freiwilligkeit“ in der Prostitution bei der Tagung in Marburg ebenfalls kritisch. Eine 18-Jährige aus dem Umland von Tschernobyl oder aus einem albanischen Dorf könne sich nicht alleine auf den Weg nach Deutschland begeben und dabei denken, „ich gehe dort auf den Straßenstrich und dann geht es mir besser“. Von den rund 400.000 Prostituierten, die nach Schätzungen derzeit in Deutschland arbeiten, kämen 80 bis 90 Prozent aus Osteuropa.
Das Rotlicht-Milieu – beziehungsweise die Rotlicht-Milieus – seien Parallelgesellschaften und Subkulturen, die viel mehr Beachtung finden müssten, aus denen sich der Staat aber weitestgehend heraushalte, erklärte Paulus. Nichts dort sei Zufall, alles Strategie. Und indem Brücken in die Gesellschaft gebaut, Hemmschwellen abgebaut würden, wachse die reale Gefahr. „Deutschland bekommt sizilianische Verhältnisse der allerschlimmsten Zeit“, so die Prognose von Paulus, wenn die Entwicklung so weitergehe.
Was man nach Einschätzung des Experten bräuchte, das seien andere gesetzliche Vorgaben und polizeiliche sowie juristische Möglichkeiten. Die Frage, die alle beschäftigen sollte, sei die einer jungen Frau aus Albanien, die in Deutschland als Prostituierte arbeitete, bevor sie auf abenteuerliche Weise in ihre Heimat geflohen ist, wo so ebenfalls bedroht wird und sich versteckt hält: „Warum gibt es so etwas in Ihrem Land?“
Auch die Diplom-Sozialarbeiterin Sabine Constabel brachte diese Frage in die Öffentlichkeit. Sie sei seit fast 25 Jahren in der Betreuung von Prostituierten tätig und könne nur bestätigen, dass Begriffe wie „freiwillig“ oder „selbstbestimmt“ fehl am Platz seien. Sie haben noch nie zu dieser Tätigkeit gepasst, schreibt sie in ihrem Vorwort zum Buch von Irin Rachel Moran über deren Geschichte als Prostituierte. In den letzten Jahren aber habe sich die Lage extrem zugespitzt. Das bisherige Prostitutionsgesetz als eines der liberalsten der Welt sei in der Praxis gescheitert. Die Legalisierung habe zu einer steigenden Nachfrage, zur Vergrößerung des Marktes und zur Zunahme des Menschenhandels in Deutschland geführt.
Auch Inge Hauschildt-Schön erklärte, das 2002 in Kraft getretene Prostitutionsgesetz – das eigentlich die Situation der Prostituierten hatte verbessern sollen – habe sich „als Flop erwiesen“. Prostitution sei gesellschaftsfähig geworden, „der Handel mit der Ware Frau boomt“, so Hauschildt-Schön. In vielen Städten werde aggressiv für Bordelle und ähnliche Etablissements geworben – Junggesellenabschiede und Vereinsfeiern würden dort abgehalten, Firmen belohnten Mitarbeiter mit Besuchen bei Prostituierten. Gleichzeitig wachse der Widerstand in der Zivilgesellschaft, was man sich vor elf Jahren, als sich die Bürgerinitiative gründete, nicht hätte vorstellen können. Die Entscheidung in Frankreich, Strafen für Freier von Prostituierten einzuführen, sei ein ganz wichtiges Zeichen. „Warum sollte das nicht auch in Deutschland möglich sein?“
—>Bestätigung des Vorurteils von einem weit verbreiteten Hurenhass – eine Erwiderung