Kritik an Marburger Doppelzüngigkeit in der Flüchtlingsbetreuung
Marburg 10.10.2016 (red) In und aus Marburg ist von städtischer Seite, namentlich Oberbürgermeister Spies, und seitens engagierter BürgerInnen viel Kritik an der Entscheidung des Landes Hessen zur Schließung der vorübergehenden Notaufnahmestelle in Marburg-Cappel artikuliert worden. Dazu äußert sich die Gruppe ‚No Border Marburg -Asylbegleitung Mittelhessen e.V.‘ in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister und verweist auf erhebliche Ungereimtheiten und Widersprüche im Verhalten der Stadt Marburg etwa gegenüber solchen Flüchtlingen und asylsuchenden Menschen, die der Stadt zur Unterbringung zugewiesen werden. Man vermisst eine konsequente Einstellung und klares Verhalten der Stadt zu Gunsten dieser Flüchtlinge. das Marburger. veröffentlicht den offenen Brief vollständig. Darin werden gravierende Fragen aufgeworfen und Kritik wird sehr anschaulich. Der offene Brief ist selbstredend.
Offener Brief an den OB Dr. Thomas Spies bezüglich der „Asyl- und Integrationsleistung“ der Stadt Marburg
Sehr geehrter Herr OB Dr. Thomas Spies, 10.10.2016
mit Befremden nehmen wir Ihre öffentliche Bestürzung über die Schließung der Außenstelle der
Erstaufnahmeeinrichtung in Cappel wahr. Die Außenstelle der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Marburg-Cappel wurde im Juni 2015 als Notlösung vom hessischen Regierungspräsidium eingerichtet. Auch wenn der von der Stadt Marburg vorangetriebene Bau von Holzhäusern im September 2015, der Aufbau des Portals Gisselberg sowie die Einrichtung von Ombudsleuten für die Belange der Bewohner des Camps sehr zu begrüßen waren, ist die Unterbringung von Asylsuchenden Menschen in Massenunterkünften und Lagern generell fraglich. In diesem Zusammenhang ist zu auch erwähnen, dass das Cappeler Camp bis heute nicht vollständig winterfest ist.
Unser Anliegen ist jedoch nicht, uns für die Schließung des Camps in Cappel auszusprechen, da insbesondere die Proteste der Bewohner*innen gegen eine weitere Verlegung unserer Meinung nach ernst zu nehmen und zu berücksichtigen sind. Stattdessen fordern wir die Stadt Marburg auf, die Kapazitäten, die für den Ausbau der Notaufnahme freigesetzt wurden, für Asyl- und Integrationsleistungen zu nutzen und den dauerhaft zugewiesenen Asylsuchenden in Marburg zukommen zu lassen.
„Reiches Land muss so mit Menschen nicht umgehen“(Vgl. Stadt Marburg: Meldung vom 20.09.2016, http://bit.ly/2cTR51d.) In der Debatte über die Schließung des Camps in Cappel haben Sie, Herr Oberbürgermeister, häufig Ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass das Land Hessen wirtschaftliche Interessen vor die Interessen asylsuchender Menschen stellt. (Ebd.)
Die Unterbringungssituation der in Marburg dauerhaft lebenden Asylsuchenden verdeutlicht, dass auch die Stadt Marburg die Interessen Asylsuchender häufig nicht beachtet. Beispielsweise ist es seit Juni diesen Jahres Menschen, die sich noch im Asylverfahren befinden oder einen Duldungsstatus haben, untersagt, sich privaten Wohnraum zu suchen. Dies gilt auch für besonders schutzbedürftige Personengruppen, wie traumatisierte Menschen oder Familien.
Dabei geht die Stadt sogar so weit, Asylsuchende, deren Mietverhältnis in privat angemieteten Wohnraum beendet wurde, zu zwingen, wieder in die städtischen Gemeinschaftsunterkünfte zu ziehen. Dadurch müssen Asylsuchende in Massenunterkünften leben, meist ohne Privatsphäre und nötigen Rückzugs- und Schutzraum. Im Zuge der steigenden Zahlen von Asylanträgen Ende 2015 hat die Stadt Marburg Verträge mit langen Laufzeiten für zusätzliche Gemeinschaftsunterkünfte abgeschlossen. Diese sind nun nicht mehr ausgelastet.
Zusätzlich weigert sich die Stadt Marburg, Asylsuchende, die von Kommunen des Landkreises Marburg-Biedenkopf in die Stadt Marburg ziehen möchten, aufzunehmen. Diese Menschen werden dadurch gezwungen, weit außerhalb, häufig mit schlechter Anbindung zum ÖPNV und zu Einkaufsmöglichkeiten und weit entfernt von den für sie zuständigen Behörden, zu wohnen. Dies steht in großem Kontrast zu Ihrem Wunsch, mehr geflüchtete Menschen in Marburg unterzubringen. (Vgl. Brief des Oberbürgermeisters Thomas Spies an den hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, 05.09.2016)
Die große Bereitschaft der Marburger*innen, geflüchteten Menschen Unterstützung zu anzubieten, ist sehr zu begrüßen. Das diesbezügliche Lob der Stadt Marburg sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele der Aufgaben, die aktuell ehrenamtlich übernommen werden, Aufgaben des Staates und generell der Öffentlichen Hand sind. Der aktuelle Betreuungsschlüssel von 1:150 von Sozialarbeiter*in zu Asylsuchenden ist viel zu gering, um den Bedarf asylsuchender Menschen befriedigend zu decken.
Das Modell der Ombudspersonen für geflüchtete Menschen im Camp war eine sehr zu begrü.ende Institution. Wir stellen uns gleichwohl die Frage, warum ein ähnliches Konzept nicht auch für die dauerhaft in Marburg lebenden geflüchteten Menschen eingerichtet wurde, um auch diesen Menschen politische Partizipation zu ermöglichen.
Anstatt den Fokus auf die Lösung der Notbetreuung von neu Ankommenden zu richten, sollte sich die Stadt Marburg daher sehr viel intensiver mit der Versorgung der ihr zugewiesenen Asylsuchenden beschäftigen. Wir stellen fest, dass die Asyl- und Integrationsleistungen der Stadt Marburg bis heute nicht mit denen der Notaufnahme verzahnt wurden und fragen uns, warum die Stadt Marburg diesbezüglich noch keine Konzepte vorgelegt und umgesetzt hat. Daher fordern wir
Sie auf, langfristig angelegte und nachhaltige integrative Konzepte zu Unterbringung, Bildung, Partizipation und Beratungsstrukturen zu entwickeln, die an den Belangen und Interessen asylsuchender Menschen ausgerichtet sind.
Mit freundlichen Grüßen,
No Border Marburg
Asylbegleitung Mittelhessen e.V.
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