Vielfalt, die Schule bereichert – Drei Klassen für Geflüchtete an den Kaufmännischen Schulen
Marburg 19.1.2017 (pm/red) Nach einem ersten erfolgreichen Durchlauf im letzten Herbst startete im Januar 2017 an den Kaufmännischen Schulen Marburg (KSM) erneut eine Intensivklasse, die für jugendliche Migranten eingerichtet worden ist. Es handelt sich um eine sogenannte „InteA“-Klasse. Das Programm „Integration durch Anschluss und Abschluss“ (InteA) des Landes Hessen richtet sich an Jugendliche im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Das Ziel ist es, den Schülern möglichst schnell grundlegende Deutschkenntnisse zu vermitteln und den Einstieg in das Berufs- und Arbeitsleben zu erleichtern. Insgesamt werden an den KSM mittlerweile fast 60 Schüler in InteA-Klassen unterrichtet.
Ein Blick in einen der drei Klassenräume zeigt, worum es geht: Alle Jugendlichen wollen möglichst schnell und gut die deutsche Sprache lernen. Das ist schwierig. Warum sagt man „halb zwei“ aber „dreizehn-Uhr-dreißig“? Warum heißt es „das Brot“ aber „die Scheibe Brot“? Warum heißt es „täglich“ und nicht „Tag-lich“? Wie viele Stolpersteine unsere Sprache birgt, ist deutschen Muttersprachlern oft gar nicht klar.
Deshalb unterrichten in den Intensivklassen insbesondere Lehrkräfte, die selbst Deutsch als Fremdsprache gelernt haben oder sich als Lehrer die Fachdidaktik des Faches Deutsch als Zweitsprache angeeignet haben und so alle Stolpersteine aus eigener Erfahrung kennen, so Angelika Fresenborg, Abteilungsleiterin an den KSM und Koordinatorin des Projektes.
Zurzeit erhalten die Schüler 22 Stunden Deutschunterricht, in jeder Klasse verteilen sich diese Stunden auf zwei Lehrkräfte. Da diese Lehrerzuweisung nicht ausreicht, um zwischen den unterschiedlichen Niveaustufen zu differenzieren und jedem Schüller ausreichend Übungszeit im Gespräch mit dem Lehrer zur Verfügung zu stellen, haben sich an den Kaufmännischen Schulen Ehrenamtliche gefunden, welche die Schüler darüber hinaus weiter fördern und unterstützen wollen. Insgesamt vier Mitarbeiter der KSM (drei Lehrkräfte und ein Mitarbeiter der Mediathek) sowie sechs pensionierte Lehrer bieten unentgeltlich weitere Übungsstunden, Gespräche und Hausaufgabenbetreuung an.
Wer eine InteA-Klasse besucht, stellt schnell fest, dass hier eine ganz besondere Arbeitsatmosphäre herrscht. Motiviert durch den Wunsch, möglichst schnell Deutsch zu lernen, arbeiten die Schüler sehr intensiv und machen gute Fortschritte. Mit einigen Schülern aus der ersten Gruppe, die im letzten Herbst angefangen haben, kann man sich schon in einfacher Sprache unterhalten. Sie können kurze Texte lesen und verstehen.
Wie in anderen Klassen auch sind Vorkenntnisse und Lerntempi sehr unterschiedlich. Zwei Schüler kamen als Analphabeten, andere kamen mit einfachen Sprachkenntnissen und lernen schnell dazu. Dabei hilft das in allen Klassen praktizierte Paten-Modell: Neben jedem schwächeren Schüler sitzt ein stärkerer, sodass kleine Hilfen jederzeit erfolgen können. Sprachforscher behaupten, dass es zwischen vier und fünf Jahren dauert, die deutsche Sprache zu erlernen. Für viele werden die zwei Jahre InteA hoffentlich ein Sprungbrett sein, aber für eine adäquate Verständigung und eine qualifizierte Ausbildung wird es noch nicht ausreichen.
Für die kommenden Oster- und Sommerferien sind die ersten Betriebspraktika geplant. Bis dahin erhalten die Schüler zusätzlich Unterricht in Mathematik, nach den Osterferien soll Biologie hinzukommen. Das Kultusministerium bietet zurzeit den externen Hauptschulabschluss als Abschlussperspektive an. Das wird aber nur einem Teil der Schüler gelingen, denn die Prüfungsfächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Biologie und Sozialkunde setzen neun Jahre Schulbesuch voraus.
Aber auch ganz alltägliche Sorgen erfordern Raum und Aufmerksamkeit: der Ärger in der Wohngruppe, die schwer zu verstehenden Behördenformulare oder die Einrichtung eines Bankkontos sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, dass auch viel sozialpädagogische Betreuung geleistet werden muss, um die Geflüchteten in den Alltag zu integrieren. Deshalb erhalten die InteA-Klassen neben der Beschulung durch Lehrkräfte auch sozialpädagogische Betreuung.
Die InteA-Klassen verändern das Bild der Schule und setzen auch bei Mitschülern Energien frei: Schüler anderer Schulformen helfen bei Übersetzungen und haben für die gemeinsame Schulweihnachtsfeier ein für alle attraktives internationales Programm gestaltet. Weitere gemeinsame Aktivitäten wie Stadtgänge, Sport, gemeinsames Kochen werden in verschiedenen Klassen bereits diskutiert – denn soziale Kompetenz entsteht nur daraus, dass man sich dem Anderen und den anderen öffnet.