Marburger Ökumenegespräch: Philosophische, religiöse und soziologische Blicke auf „Diskriminierung und Identität“
Marburg 31.01.2019 (pm/red) Für das XVI. Marburger Ökumenegespräch hatten Stadt, Universität und Kirchen drei streitbare Rednerinnen mit unterschiedlichen Blickwinkeln zum Thema „Diskriminierung und Identität“ eingeladen. Die Bundestagsabgeordnete Karin Göring-Eckardt, Prof. em. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz aus Erlangen und Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr aus Leipzig brachten ihre teils sehr kontrovers diskutierten Standpunkte vor – und standen anschließend in einer Podiumsdiskussion für Fragen zur Verfügung.
Toleranz und miteinander auch strittige Themen diskutieren – das hat in Marburg eine 500-jährige Tradition, sagte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies mit Blick auf das Marburger Religionsgespräch. In diesem Geiste stehen die Marburger Ökumenegespräche, die Stadt, Universität und Kirchen in diesem Jahr zum 16. Mal organisiert haben. „Wir hoffen, dass wir hier Antworten auf Fragen bekommen, die in Zukunft in Marburger Debatten hilfreich sein können.“ In diesem Jahr war das Thema „Diskriminierung und Identität“.
„Wer bin ich und wer darfst du sein? Was lassen wir zu und was fürchten wir?“, fasste OB Spies wichtige Fragen zusammen für die Diskussionen um „Diskriminierung und Identität“ zusammen. „Wo sind notwendige Grenzen und wo fängt die Diskriminierung an?“, ergänzte Prof. Dr. Malte-Dominik Krüger (FB Evangelische Theologie). Denn heute würden wieder Mauern gebaut, nicht nur physisch – wie US-Präsident Donald Trump es an der Grenze zu Mexiko plant – sondern auch digital im Internet und ideell. „Auch Religionen können trennen“, sagte er.
„Identität gibt es nicht naturgegeben“, sagte die katholische Religionsphilosophin Gerl-Falkovitz in ihrem Vortrag. Identität wachse. Sie werde bestimmt durch Kultur und Familie, in die man hineingeboren werde – aber auch durch den eigenen Lebensweg, durch Ziele, die man mit Liebe und Hingabe verfolge, durch Religion und vor allem durch ein Gegenüber. „Für ein Ich braucht man ein Du“, so Gerl-Falkovitz. „Eine Einheit hat immer zwei Komponenten, die sich fügen, man kann mit sich selbst keine Einheit sein.“ Der Mensch alleine sei ein defizitäres Wesen und könne diese Einheit nur in der Spannung mit der Außenwelt und in der Liebe – zu anderen Menschen und zu Gott – finden.
Göring-Eckardt äußerte ihre Angst davor, dass es einigen Menschen mehr um Spaltung und um Eingrenzung von Identität gehe, dass es nicht heiße „Ich bin Ich“ sondern „Ich bin gleich“. Sie vertrat den Standpunkt, dass Identität wandelbar sei: „Sie ist nie fertig, sie ist aber auch nicht auswechselbar und sie ist auch ein Zeichen der Heimat und der Wurzeln.“ Die sexuelle Identität werde heute auch in den Kirchen und Religionen diskutiert – die gleichgeschlechtliche Ehe sei bei den Protestanten akzeptiert. Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität gebe es dennoch häufig – und so sei das Suizidrisiko bei Jugendlichen, die beispielsweise homosexuell, transsexuell und queer sind, vier bis sechs Mal höher, als bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. „Wie kann es sein, dass jemand, der liebt, infrage gestellt wird?“ Jesus habe sich mit Diskriminierten solidarisiert. Und auch die Menschen sollten solidarischer mit ihren Mitmenschen umgehen: „Ich bin anders, aber du bist auch anders“.
Wohlrab-Sahr brachte eine soziologische Betrachtungsweise mit in die Diskussion: „Diskriminierung ist die Ablehnung und Verweigerung von gesellschaftlichen Rechten. Nicht jede abfällige Äußerung ist auch Diskriminierung.“ Wenn man jemandem durch seine Äußerungen dessen Rechte aberkenne, dann diskriminiere man ihn – „alles andere ist Herablassung, wenn auch moralisch verwerflich.“ Der Begriff „Diskriminierung“ werde daher auch oft als Symbol für die Verletzung von Sensibilitäten verwendet. Auch verschiebe sich die Wahrnehmung von „Diskriminierung“ – früher habe sie sich auf Klasse und Herkunft bezogen, heute viel mehr auf den eigenen Geschmack und das persönliche Sein.
„Globalisierung und Migration wirbeln Identitäten durcheinander“, so die Soziologin. Verschiedene Identitäten träfen heute in Kirche und Politik aufeinander. Und noch immer sei es so, dass auch Kirchen teilweise Orte der Diskriminierung seien – etwa weil Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen werden. „Es gibt keine einfachen Lösungen mehr. Aber Gespräche wie dieses heute können dazu beitragen, sich solche gesellschaftlichen Mechanismen bewusst zu machen – und sie von ihrem goldenen Thron zu holen.“
Nach den Vorträgen diskutierten die drei Referentinnen miteinander und mit einigen Fragestellenden aus dem Publikum. Gerl-Falkovitz warf etwa die Frage auf, ob „Sensibilitäten“ auch eine Gesetzgebung nötig machen müssen – also ob ein diverses, drittes Geschlecht tatsächlich gesetzlich unter Schutz gestellt werden müsste und wo eine Grenze der Gesetzgebung erreicht sei. „Ich räume Respekt ein und fordere ihn auch von meinem Umfeld – aber deswegen muss man ja aus Subjektivitäten kein Gesetz machen.“
Für Göring-Eckardt ist die Einführung des dritten Geschlechts jedoch klar eine Frage der Rücksicht auf Menschen durch die Politik. Auch über Gleichberechtigung, Chancengleichheit und unterschiedliche Auslegungen der Bibel sprachen die Frauen. Dabei vertraten sie teilweise deutlich unterschiedliche Ansichten. Gerl-Falkovitz hob jedoch den Gewinn der Diskussionen um unterschiedliche Positionen hervor: „In Deutschland gibt es zwei Kirchen – im Gegensatz zu anderen Ländern – und das trägt bis heute enorme Früchte für die Gesellschaft.“