Biodiversitätskrise: Technische Fortschritte reichen als Antwort nicht aus
Marburg 05.03.2019 (wm/red) Das rasante Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum zerstört die biologische Vielfalt – vor allem in den Tropen. Das berichtet ein Forscherteam unter der Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) in Nature Ecology & Evolution. Schuld daran ist die wachsende Nachfrage nach Agrarprodukten, die immer neue Anbauflächen verlangt. Zwar wird die Landwirtschaft durch technische Fortschritte immer effizienter, doch die wachsende Zahl an Menschen macht diese Erfolge wett. Klar ist: Eine wirksame Naturschutzpolitik braucht Konzepte gegen Bevölkerungswachstum und für nachhaltigen Konsum.
Die Weltbevölkerung und Weltwirtschaft wächst. Menschen wollen Konsumgüter und Nahrungsmittel. Dadurch wird immer mehr Land benötigt, Natur wird in Äcker und Plantagen umgewandelt: eine Gefahr für die biologische Vielfalt und ihre Leistungen für den Menschen (Ökosystemleistungen). Die übliche Antwort der internationalen Politik ist die Steigerung der land- und forstwirtschaftlichen Effizienz mit technischen Mitteln. Nur: Reicht das aus?
Wissenschaftler unter der Leitung des Forschungszentrums iDiv und der Uni Halle haben ermittelt, wie sich die Landnutzung auf die biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen auswirkt und vor allem, wie sich diese Auswirkungen über die Jahre verändert haben. Dabei untersuchten sie, welche Rolle Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum beim Verlust von Biodiversität und Ökosystemleistungen weltweit spielen. Dazu verknüpften die Wissenschaftler Daten zu Vogelbeständen, zur Landnutzung und zur Bindung von CO2 mit ökonomischen Modellen für den Zeitraum zwischen 2000 und 2011.
Die Ergebnisse zeigen, dass wachsende Weltbevölkerung und Weltwirtschaft überall zu mehr Landnutzung führen. Dies zerstört biologische Vielfalt und Ökosystemleistungen. So erhöhte sich die Zahl der durch Landnutzung vom Aussterben bedrohten Vogelarten zwischen 2000 und 2011 um bis zu sieben Prozent. Im selben Zeitraum verlor der Planet sechs Prozent seines Potenzials, CO2 aus der Luft zu binden, da die Vegetation auf den neu entstandenen Agrarflächen nicht so viel Kohlenstoff einlagern kann wie jene in ursprünglichen Ökosystemen.
Der Verlust der Artenvielfalt findet fast vollständig in den tropischen Regionen statt. 2011 lebten über 95 Prozent der durch Land- und Forstwirtschaft bedrohten Vogelarten in Mittel- und Südamerika, Afrika, Asien und im Pazifikraum. Die Fähigkeit der Ökosysteme zur Kohlenstoffbindung schwindet jedoch überall auf der Erde – ein Viertel des Schwundes geht auf land- und forstwirtschaftliche Nutzung von Flächen in Europa und Nordamerika zurück.
In den ersten elf Jahren des Jahrtausends dezimierte vor allem die Rinderzucht die Artenvielfalt. Gleichzeitig nahm der Anbau von Ölsaaten massiv zu, vor allem in Asien und Südamerika. „Das ist unter anderem eine Folge der verstärkten Förderung von Biokraftstoffen, die dem Klimaschutz dienen soll“, sagt der Koordinator der Studie Prof. Henrique M. Pereira. Pereira leitet die Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz beim Forschungszentrum iDiv und der Uni Halle.
Außerdem wollten die Forscher herausfinden, wie stark sich der Welthandel auf Biodiversität und Ökosysteme auswirkt. Fast jeder Kauf eines Nahrungsmittels beeinflusst indirekt die Natur in der Ferne. Für einen Hamburger etwa werden Rinder geschlachtet, die auf südamerikanischen Weiden stehen oder in hiesigen Ställen mit Soja aus Südamerika gefüttert werden. Dafür werden dort Wälder gerodet, die ursprüngliche Artenvielfalt wird zerstört. So lagern die entwickelten Länder 90 Prozent der durch Konsum von Agrarprodukten erzeugten Zerstörungen in andere Erdteile aus. Im untersuchten Zeitraum nahm der Konsum aber auch in anderen Weltregionen rasant zu. „Die Schwellenländer überholen die Industriestaaten gerade als Hauptverursacher des Biodiversitätsschwundes“, sagt Pereira.
Die Zerstörungen pro erwirtschaftetem Dollar sind im Untersuchungszeitraum überall auf der Welt zurückgegangen: Die Landnutzung ist also effizienter geworden. „Dennoch hat die Umweltzerstörung insgesamt zugenommen“, sagt Erstautorin Dr. Alexandra Marques vom Forschungszentrum iDiv und der Uni Halle. „Weltbevölkerung und Wirtschaft wachsen einfach so schnell, dass sie die erzielten Verbesserungen kompensieren.“
„Das Bild, wer den Biodiversitätsverlust verursacht, hat sich also in kurzer Zeit stark verändert“, schlussfolgert Henrique Pereira. „Es ist nicht entweder der Norden oder der Süden – es sind beide.“ Das sollte aus seiner Sicht in internationalen Naturschutzverhandlungen auch berücksichtigt werden.
Nach Ansicht der Wissenschaftler ist eine Verringerung des Bevölkerungswachstums entscheidend, um die Ziele der UN-Nachhaltigkeitsagenda umzusetzen. Das käme am Ende sowohl der Gesellschaft als auch der Natur zugute. Gleichzeitig müssten die Industrieländer stärker die Fernverantwortung bei der Zerstörung von Biodiversität berücksichtigen sowie die Auswirkungen der eigenen Klimapolitik. „Wir brauchen eine Umweltpolitik, die den Klimawandel und den Wandel der biologischen Vielfalt gemeinsam denkt“, empfiehlt Pereira.