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Lutherstädte zeichnen Seyran Ateş für „Das unerschrockene Wort“ aus

Seyran Ateş. Foto Julius Matuschik

Marburg 03.04.2019 (pm/red) „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ – das sagt Seyran Ateş. Und sie stellt klar: Eine Religion, die nur der Abgrenzung dient, stellt sich gegen die Demokratie. Die Rechtsanwältin, Autorin, Frauenrechtlerin und Moschee-Gründerin Seyran Ateş erhält in Marburg den diesjährigen Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“.Der Bund der 16 Lutherstädte in Deutschland zeichnet die 55-jährige Berlinerin mit türkisch-kurdischen Wurzeln für ihren Kampf für die Rechte muslimischer Frauen, für Demokratie, Integration und für einen säkular-liberalen Islam, gegen Parallelgesellschaften und gegen politisch-religiösen Extremismus aus. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird am 27. April in einer öffentlichen Festveranstaltung in der Lutherischen Pfarrkirche verliehen.

Die Entscheidung für Seyran Ateş fiel bei der Jurysitzung der 16 Mitgliedstädte im November in Marburg. Die Jury wählte Seyran Ateş als Preisträgerin für „Das unerschrockene Wort“ wegen ihres unerschrockenen Einsatzes für Frauenrechte und gegen kulturell und religiös begründete Gewalt und Extremismus. „Die Frage der Integration ist eines der bedeutenden Themen der Gegenwart und eine enorme Herausforderung für die Zukunft unserer Gesellschaft. Mit Seyran Ateş würdigen wir eine Pionierin der Integrationsarbeit. Trotz Morddrohungen und tätlichen Übergriffen verfolgt sie diesen Weg seit Jahrzehnten mit enormer Zivilcourage. Seyran Ateş bezeichnet sich selbst als gläubige Muslimin, die ihre Religion von innen heraus reformieren will, statt sich gegen sie zu wenden. Das ist im bestens Sinne Luthers,“ heißt es in der Begründung der Jury. Für Seyran Ateş selbst ist es „eine Ehre, den Preis anzunehmen. Herzlichen Dank an alle beteiligten Städte“, sagt sie.

Seyran Ateş ist eine streitbare, mutige und unerschrockene Frau im wahrsten Sinn des Wortes. Als Anwältin in Berlin befasst sie sich hauptsächlich mit Straf- und Familienrecht und engagiert sich in der deutschen Ausländerpolitik. Sie war Mitglied der Deutschen Islamkonferenz und nahm am Integrationsgipfel der Bundesregierung teil.

Wegen gewalttätiger Angriffe und Drohungen gab sie 2006 vorübergehend ihre Kanzlei auf, 2009 zog sie sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück – nach Morddrohungen, als ihr Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ erschien. Seit 2011 ist sie wieder öffentlich und als Anwältin aktiv – vor allem für hilfesuchende Frauen.

Die 55-jährige Frauenrechtlerin setzt sich für mehr aufsuchende Sozialarbeit in türkischen und kurdischen Familien Berlins ein. Sie kämpft mit Vorträgen und Veröffentlichungen gegen die Unterdrückung von Frauen, gegen Zwangs- und Kinderehen, Genitalverstümmelung sowie Ehrenmorde. Sie forderte als erste, Zwangsverheiratung als eigenen Straftatbestand einzuführen, der Frauen und Männer besser schützt.

Seyran Ateş ist Initiatorin und Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die für einen säkularen Islam durch Trennung von weltlicher und religiöser Macht sowie einer zeitgemäßen und geschlechtergerechten Interpretation des Koran steht. Die Moschee steht allen Konfessionen offen, Männer und Frauen beten gemeinsam, Homosexuelle werden getraut. Ateş ließ sich selbst zur Imamin ausbilden. Sie sagt: „Wo Religion nur der Abgrenzung dient, stellt sie sich gegen die Demokratie. Und wo Religion nach Strafen schreit, beginnt der Krieg gegen die Aufklärung und gegen jene Freiheiten, von denen hierzulande alle Kirchen und Glaubensgemeinschaften profitieren. Auch ihre Wahrheit muss kritisierbar bleiben. Beleidigt werden kann im Grunde nur der Fundamentalist.“

Seit Gründung der Moschee erhält Seyran Ateş erneut Morddrohungen. Deshalb steht sie rund um die Uhr unter Polizeischutz. Für diesen Schutz ist sie dem deutschen Staat dankbar angesichts der Gewalt, mit der „alle liberalen Kräfte, alle Kräfte der Reformation im Islam“ stillgehalten und unterdrückt werden, wie sie jüngst in einem Zeitungsinterview sagte. Ihre Arbeit setzt sie dennoch fort – im großen Rahmen unter anderem in einer europäischen Bürgerinitiative für ein Maßnahmepaket gegen politischen und religiösen Extremismus. Oder auch in der kleinen liberalen Moschee in Berlin, deren tabubrechende Bedeutung für die muslimischen Gemeinden kaum größer sein könnte: „Es ist die gleiche Bewegung oder die gleiche Entwicklung, wie Martin Luther sie seinerzeit auch gemacht hat“, zieht Ateş die Parallele, „er hat auch ganz allein und ganz klein angefangen“.

So erhebt Seyran Ateş ihre Stimme und mischt sich ein, bezieht streitbar Position, landauf landab auf Konferenzen und Tagungen, in Interviews für Zeitungen, in Funk und Fernsehen, eigenen Artikeln und Büchern, oft politisch herausfordernd, selten bequem, aber stets mit Leidenschaft für den Dialog, für die Freiheit des/der Einzelnen, für Integration, Gleichberechtigung und für eine Religiosität, die nicht politisch ist, sondern sich als Quell privater Spiritualität der weltlichen Ordnung unterwirft.  Wegen ihres Engagements hat Seyran Ateş bereits zahlreiche Preise erhalten.

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