25 Jahre Künstler/innen Stipendium in Willingshausen: Zur Förderung aktueller – auch streitbarer – künstlerischer Positionen
Kassel/Willingshausen 16.08.2020 Ansprache zur Ausstellungseröffnung als Gastbeitrag von Bernhard Balkenhol | In Willingshausen wurde am 14. August mit Selina Schwank die 50. Stipendiatin des Künstlerinnen Stipendiums in Willingshausen mit einer Ausstellung vorgestellt. Das wäre ein Anlass, auf 25 Jahren Arbeitsstipendium junger KünstlerInnen in Willingshausen zurückzublicken und zu fragen, was aus den ehemaligen StipendiatInnen geworden ist. Diesen Festvortrag spare ich mir und Ihnen heute, er wäre eine eigene Veranstaltung wert. Ich beschränke mich auf einige wenige Aspekte zur Charakterisierung des Stipendiums. Die Kataloge der StipendiatInnen, deren imposante Reihe Sie im Foyer einsehen können, sind – neben dem Arbeitsaufenthalt und der Ausstellung in der Kunsthalle – ein wesentlicher und nachhaltiger Teil des Stipendiums. Sie geben den KünstlerInnen ein hervorragendes Material für ihr Start Up, das der Einstieg in eine freie KünstlerInnen Karriere darstellt.
Wie an der sehr unterschiedlichen individuellen Gestaltung ablesbar ist, geht es in diesem Stipendium nicht darum, die Maler-Tradition der Künstlerkolonie fortzusetzen, sondern darum, eine Förderung aktueller – d.h. auch streitbarer – künstlerischer Positionen einzurichten, egal in welchem Medium und mit welchen Techniken gearbeitet wird. Denn das wichtigste – und interessanteste daran ist die Frage: Welche Themen bringen die KünstlerInnen mit, und welche spezifische Sprache finden sie, sich darüber zu äußern.
Die Träger, allen voran die Sparkassen Gemeinschaft, hatten und haben also kein Interesse an der Kolonialisierung der Schwalm durch Kunst, es geht ihnen vielmehr darum, gerade auch auf dem Land eine gegenwärtige und zukunftsorientierte Kultur zu Wort und Bild kommen zu lassen, die wesentliche Fragen unserer Gesellschaft aufnimmt. Das beginnt mit der Frage nach Traditionen und einem angemessenen – auch kritischen Umgang damit, betrifft Fragen nach dem Begriff von Heimat und der Zukunft der Jugendlichen, die hier aufwachsen, der Konstitution und Struktur sozialer Gemeinschaften und der Definitionen von Geschlechtern, und geht bis hin zu dringenden Fragen ökonomischer und ökologischer Verfasstheit, lokaler wie nationaler und globaler Politik, wie sie Selina Schwank hier in ihrer Installation anspricht
So war meine Ausschau nach KandidatInnen (es sind immer 5 gleichwertig gute Positionen, von denen dann 2 ausgewählt werden) und meine Vorschläge für die Vergabe des Stipendiums immer orientiert an der Intensität und Komplexität der Auseinandersetzung mit solchen Fragen – nicht daran, ob mal wieder ein Maler / eine Malerin „dran“ sei. Denn mit den immer wieder neuen Themen ergab sich automatisch ein Wechsel von Medien und Arbeitsweisen, und mit der entsprechend markanten KünstlerInnen Persönlichkeit auch jeweils ein völlig neues Gesicht der Ausstellungen. Damit sollte das Stipendium über die Zeit die Vielgestalt künstlerischer Positionen heute widerspiegeln und wach machen für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart.
Gleichzeitig bedeutete der Aufenthalt für die StipendiatInnen auch immer ein „Aus“ aus ihrem gewohnten Kontext von Lebensraum, Atelier und Freundeskreis, auch von den gewohnten Arbeitsmöglichkeiten (Werkstätten und Internet z.B.). Die Einsamkeit vor Ort führte dazu, dass so mancher/manche erstmal in ein Loch fiel, sich besinnen und orientieren musste. Viele haben sich deshalb direkt auf Willingshausen, Leben und Struktur, Landschaft und Architektur eingelassen, ihr Thema also hier neu gefunden oder wiederentdeckt. Ich denke: inzwischen gibt es wohl kein Dorf in Deutschland, das so intensiv und vielseitig künstlerisch thematisiert wurde wie Willingshausen.
Mir persönlich, der ich das Stipendium seit 2005 betreue, war es wichtig, dass die Kunst der StipendiatInnen nicht als Ufo im Dorf landet – auch nicht einfach nur eine Provokation ist, die würde ins Leere gehen – dass also neben der Neugier auf den Gast und dem Kontakt zu den jungen KünstlerInnen sich in den Köpfen vielleicht auch etwas bewegt. Z.B. dass die Scheu vor einer modernen Kunst verschwindet, die keine „schönen Bilder“ produziert und grundsätzlich etwas anderes ist als das Malen mit Öl und Essig, dass man sich einlässt auf die Themen, die mit ihr verhandelt werden, und damit der Kunstbegriff sich erweitert. Ich weiß nicht, ob mir das tatsächlich gelungen ist. 25 Jahre hinter uns jedenfalls sind vielleicht 25 Jahre vor uns. Machen wir also weiter.
—>Bericht: „Halbe Tage“ und weitreichende Perspektiven für die Kunst in Willingshausen