Der 9. November und politisches Wissen – Defizite in Schulen und Medien verantwortlich für geringes politisches Wissen
Kassel 08.11.2020 (wm) Der 9. November gilt als „Schicksalstag der Deutschen“. An diesem Datum gab es Ereignisse von historischer Bedeutung: 1918 die Novemberrevolution, 1923 der Putsch von Hitler und Ludendorff, 1938 die Novemberpogrome, 1989 der Mauerfall. Bei einigen spielte politisches Wissen und Unwissen eine große Rolle, bei keinem sind Ursachen, Tragweite und Bedeutung – auch für die eigene Person – ohne politisches Wissen zu verstehen.
Politisches Wissen hat großen Einfluss auf die Qualität einer Demokratie. Das sieht man aktuell und bei vielen historischen Ereignissen, von denen einige an einem 9. November ihren Anfang nahmen oder einen Höhepunkt hatten. Dr. Markus Tausendpfund von der FernUniversität hat mit einer Kollegin den ALLBUS 2018 ausgewertet. Sein Fazit: Das politische Wissen in Deutschland ist insgesamt auf einem eher geringen Niveau, aber je nach sozialen Gruppen sehr unterschiedlich. Dabei spielen Defizite im Politikunterricht und die Medienlandschaft wichtige Rollen. Zum politischen Wissen in Deutschland haben Tausendpfund und Prof. Dr. Bettina Westle (Marburg) gerade ein Buch herausgegeben.
„Das politische Wissen in Deutschland ist insgesamt auf einem eher geringen Niveau, aber je nach sozialen Gruppen sehr heterogen“, sagt Dr. Markus Tausendpfund von der FernUniversität in Hagen. Dabei steht politisches Wissen in engem Zusammenhang mit der Qualität einer Demokratie und hat großen Einfluss auf die politische Chancengleichheit.
Die Gründe für die Defizite bei Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland sieht der Leiter der FernUni-Arbeitsstelle Quantitative Methoden zunächst einmal in fehlendem Politikunterricht, dann aber auch in der Struktur der Medienlandschaft. Zum politischen Wissen in Deutschland haben Tausendpfund und Prof. Dr. Bettina Westle (Philipps-Universität Marburg) gerade ein Buch herausgegeben.
Bevölkerungsgruppen mit höherem politischen Wissen beteiligen sich stärker an der Politik. Für sie ist die Demokratie ein Wert an sich, sie nehmen eher an Wahlen teil und sind besser gegen Populismus gewappnet. Wer dagegen wenig weiß, ist seltener politisch engagiert, weniger demokratisch eingestellt, intoleranter und anfälliger für populistische Vereinfachungen komplexer Probleme sowie weniger wachsam gegenüber politischen Eliten.
„Fake News“ besser erkennen können
Politische Faktenkenntnisse und politisches Verständnis sind wichtig, um neue Informationen aufnehmen und verstehen zu können. Eine kommunikationswissenschaftliche Hypothese besagt laut Tausendpfund und Westle, dass Menschen mit größerem politischen Wissen stärker von neuen Informationen aus den Medien profitieren als solche mit geringem. Nur wenn neue Informationen mit alten vernetzt und in diese eingebettet werden können, ergeben sie demnach Sinn und können dauerhaft im Gedächtnis verankert werden. Sie sind zudem wichtig, um neue Informationen kritisch beurteilen und falsche erkennen zu können. Dieser Aspekt wird angesichts des Informationsüberflusses durch das Internet, auch mit „Fake News“, immer bedeutender.
Woran wird politisches Wissen festgemacht?
Um das Wissensniveau der Bürgerinnen und Bürger in Erfahrung zu bringen, nutzten Tausendpfund und Westle ein Wissensquiz der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften des Jahres 2018 (ALLBUS 2018) mit insgesamt 21 Fragen, z.B. wer den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin wählt (das wissen 60 Prozent), wer die Richtlinienkompetenz hat (28 Prozent) oder was der Begriff „Wahlgeheimnis“ (81 Prozent) bedeutet.
Wichtig für eine Wahlentscheidung ist auch, welche politischen Akteure welchen Parteien angehören und welche Politik sie vertreten. 90 Prozent der Befragten wussten, dass Angela Merkel in der CDU ist. Bei Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (ebenfalls CDU) war das nur 60 Prozent bekannt. Lediglich jeweils 40 Prozent ordneten Außenminister Heiko Maas richtigerweise der SPD und Katrin Göring-Eckardt Bündnis 90 / Die Grünen zu.
Ähnliches gilt auch für Fragen zur Politik, zu zentralen Themen und zum Wahlsystem. Seit vielen Jahren liegt die Quote der richtigen Antworten zur Bedeutung von Erst- und Zweitstimme z.B. zwischen 50 und 60 Prozent.
Wissen also viele Menschen gar nicht wirklich, was sie bei der Wahl tun? Tausendpfund überlegt und sagt dann „ja.“ Die Frage nach Erst- und Zweitstimme wird regelmäßig in Wahlbefragungen gestellt, an ihr zeigt sich, dass das Wissensniveau verhältnismäßig stabil bleibt. Tausendpfund: „Vor der Wahl bzw. im Wahlkampf wird der Unterschied etwas bekannter, danach wird er wieder vergessen.“
Wer ist gut informiert, wer schlecht?
Es gibt durchaus Bevölkerungsgruppen mit sehr hohem politischen Wissen: Diese kennen die zentralen Institutionen und Verfahren des politischen Systems, wichtige Akteure sowie politische Themen. Das sind Bürgerinnen und Bürger mit besserer Bildung, höherem Einkommen und eher Männer mit stärkerem politischen Interesse. Das ist tendenziell vor allem bei den Gruppen der Fall, die Grüne und FDP wählen, bei AFD-Anhängerinnen und -Anhängern eher nicht.
Politikunterricht wird vernachlässigt
Ausgangspunkt der Defizite bei bestimmten Gruppen ist für Tausendpfund oft die Schulzeit. Seit vielen Jahren wird über die Bedeutung des Politikunterrichts im Unterricht debattiert: „Er ist zu gering bis nicht existent. Häufig wird dieses Fach mit anderen wie z.B. dem Wirtschaftsunterricht kombiniert. Wir müssen das Fach Politik im Blick halten, weil das politische Wissen ja sehr ungleich verteilt ist.“ Der Politikunterricht kann einerseits das politische Wissen fördern und dazu beitragen, die soziale Ungleichheit bei diesem zu verringern. Andererseits können nur in der Schule alle (künftigen) Bürgerinnen und Bürger erreicht werden.
Aber auch außerschulische Angebote wie der Wahl-O-Mat sind wichtig, da hier sehr viele Bürgerinnen und Bürger erreicht werden. Solche Angebote können das politische Wissensniveau natürlich ebenfalls fördern.
Große Bedeutung hat auch das persönliche politische Interesse, das als zentrale Vorbedingung für den Erwerb und Erhalt politischen Wissens gilt. Die Förderung des politischen Interesses bezeichnet Tausendpfund als gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Politik als Entertainment
Mittelfristig gesehen spielen auch verschiedene Medien eine zentrale Rolle. „Das war ein sehr langer Prozess.“ Er begann, als das Privatfernsehen ab 1984 und etwa zeitgleich die Privatradios die Medienlandschaft stark differenzierten, so der ehemalige Journalist. Bis dahin konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer nur die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARD, ZDF und das regionale dritte Programm empfangen und ihrer politischen Berichterstattung oft „nur mit dem Ausschaltknopf ausweichen“.
Die neuen Privatsender haben ein anderes Verständnis von Berichterstattung als die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Bei ihren Nachrichten geht es weniger um Fakten als um Entertainment. „Personen, die häufig Nachrichten der öffentlich-rechtlichen Sender konsumieren, haben eindeutig ein höheres politisches Wissen. Nachrichtensendungen privater Sender reduzieren das Wissen eher“, so Tausendpfund. „Das ist primär darauf zurückzuführen, dass dort Nachrichten einfach anders vermittelt werden – unterhaltender eben.“ Wichtig sind Emotionen und Unterhaltung. „Die Bild-Zeitung verkauft ja auch Nachrichten völlig anders als z.B. die FAZ, die Süddeutsche Zeitung oder die ZEIT“, so Tausendpfund.
Immunisiert gegen Fakten
Vergrößert – aber nicht unbedingt verbessert – wird die Medienvielfalt durch Twitter, geschlossene Facebook-Gruppen etc. Sie immunisieren die User sogar offensichtlich gegen Fakten, die nicht in ihr Weltbild passen – wobei Tausendpfund aber betont, dass hier die Datenlage für konkretere Aussagen noch nicht ausreicht. Klar ist aber, dass das Internet ein breites Angebot von Informationen bereithält, von „seriös“ bis „höchst problematisch“.
Buch über politisches Wissen in Deutschland
„Seit der Aufklärung gilt politisches Wissen als Voraussetzung für die Mündigkeit der Bürger“, schreiben Tausendpfund und Westle im Vorwort ihres neuen gemeinsam herausgegebenen Buches „Politisches Wissen in Deutschland. Empirische Analysen mit dem ALLBUS“ (2020. Wiesbaden: Springer VS). Insbesondere das von normativen Partizipationstheorien der Demokratie häufig gezeichnete Bild des demokratischen Bürgers als bestens informiertem, politisch kenntnisreichem und selbstbewusstem Homo politicus trifft für sie auf die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland nicht grundsätzlich zu.