Entwürdigung und Ausgrenzung – Kritik an Äußerung des Kasseler Soziologen Prof. Bude
13.12.2021 (red) Wissenschaftler werden gerne als Ratgeber herangezogen oder wegen vermeintlicher Objektivität und Sachkompetenz in Gremien berufen. Dass die Äußerung von einem Wissenschaftler hochproblematisch und Grenzen überschreitend ausfällt, wird vom „Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte“ kritisiert. Adressat ist Prof. Dr. Heinz Bude, Soziologe aus Kassel. Dessen Äußerung zum Umgang mit sogenannten „Impfgegnern“, gemeint sind Menschen ohne Impfung gegen das Corona-Virus, sei ein Beitrag zu einer „Schussfahrt in die Entmenschlichung“, dem das Netzwerk entgegentreten will. Dazu wurde eine Offene E-Mail an den Kasseler Soziologen veröffentlicht, die sich nachstehend dokumentiert findet.
Sehr geehrter Herr Professor Bude,
in einem Interview mit „The Pioneer: Steingarts Morning Briefing“ führten Sie am 8. Dezember 2021 Folgendes aus (unter https://www.thepioneer.de/originals/steingarts-morning-briefing/podcasts/impfgegner-muessen-fuehlbare-nachteile-haben bei 14:30):
„Ich würde es jetzt jedem politisch empfehlen: Klare Kante, klare Richtung. Impfgegner müssen fühlbar Nachteile haben. Und im Grunde, in gewisser Weise, kann man sich nicht länger mit denen beschäftigen. Das ist so. Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten. Was soll man machen?“
Die Benutzung dieser Worte im öffentlichen Diskurs kommt vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte einem Dammbruch gleich, den sich niemand ernsthaft wünschen kann!
Da Sie nach den Angaben auf Ihrer Universitäts-Homepage Ihre Promotion zum Dr. phil. mit einer Dissertation zur Wirkungsgeschichte der Flakhelfer-Generation erlangt haben, dürften Ihnen zentrale Begriffe des Nationalsozialismus nicht unbekannt sein. Ein solcher zentraler Begriff ist der sogenannte Madagaskar-Plan. Er war „eine vom nationalsozialistischen Regime Deutschlands zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kurzzeitig verfolgte Erwägung, vier Millionen europäische Juden auf die vor der Ostküste Afrikas gelegene Insel Madagaskar, damals eine französische Kolonie, zu deportieren. Der antisemitische Plan wurde nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und im Auswärtigen Amt des Deutschen Reiches ausgearbeitet. Er wurde allerdings nie umgesetzt, insbesondere wegen des Seekriegs gegen Großbritannien und der damit nicht vorhandenen Hoheit über die entsprechenden Seewege. So endeten die Arbeiten am Madagaskarplan noch im selben Jahr. Stattdessen wurde letztlich ein Großteil der europäischen Juden im Holocaust ermordet.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Madagaskarplan, zuletzt abgerufen am 11.12.2021).
Es ist dem zitierten Wikipedia-Artikel zufolge in der Geschichtswissenschaft umstritten, ob dieser Plan bis zu seinem Scheitern ernsthaft verfolgt wurde oder ob Hitler von vornherein stattdessen die physische Vernichtung der europäischen Juden anstrebte. Letzteres, so Wikipedia, vertrete z.B. Götz Aly, dem das Vorhaben rückwirkend als „völlig abwegig“ erscheint, weshalb „es nicht selten als Metapher für den angeblich schon fest geplanten Völkermord interpretiert“ werde (zitiert aus dem genannten Wikipedia-Artikel, der sich umfassend mit diesem Thema beschäftigt).
Dies alles müssten Sie wissen und sagen dennoch: „Die kann man nicht nach Madagaskar verfrachten.“ Und: „Was soll man machen?“
Ja, was soll man denn machen? Möchten Sie diese Frage vielleicht beantworten?
Oder werden Sie einfach nur beklagen, böswillig falsch verstanden worden zu sein, da Sie schließlich nicht von einem „Plan“, sondern nur von Madagaskar als weit entfernter Destination sprachen? Quasi wie gemacht für einen Impfgegner-Kurzurlaub? Vielleicht wenden Sie auch ein, natürlich nicht auf den Madagaskar-Plan angespielt haben zu wollen, an ihn auch gar nicht gedacht zu haben. Ihr Ziel sei es vielmehr gewesen, humorvoll einen freundlichen Fingerzeig auf das alte Freddy Quinn-Lied „Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord“ zu geben? Gemeinsam Shantys singen, das, so könnten Sie ergänzen, sei sinnvoller, als sich länger mit „denen“ zu beschäftigen.
Vielleicht beweisen Sie aber auch die Größe einer echten Entschuldigung und räumen ein, sich verrannt zu haben. Die Menschen, die sich (noch) nicht haben impfen lassen, sind eine heterogene Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen und Beweggründen. Es handelt sich nicht um „Impfgegner“ – Impfgegner ist ein Kampfbegriff, der zur Kennzeichnung und Entmenschlichung einer Gruppe von Menschen genutzt wird, die lediglich miteinander verbindet, dass sie sich gegen eine bestimmte Krankheit nicht mit den derzeitig verfügbaren Impfstoffen impfen lassen wollen oder können.
Hat man diese Menschen erst einmal zu einer fratzenhaften Gruppe zusammenverdinglicht, dann, ja dann kommt man auf die Idee, sie „verfrachten“ (darin steckt der Frachter – erinnert Sie das nicht auch an Viehwaggons, wenn Sie dieses Wort hören?) zu lassen, und zwar nach Madagaskar, wohin schon die andere heterogene Gruppe verfrachtet werden sollte, bevor man eine andere Lösung für diese fand und umsetzte.
Juristisch berührt das Wort verfrachten und berührt Ihr „traditionelles“ Ziel Madagaskar die Menschenwürde. Rüsten Sie ab, Herr Professor Bude! Ihre „Impfgegner“ sind Ihre Kollegen und Freunde, sie fahren Ihren ICE, pflegen Angehörige, pflastern Ihre Wohnstraße und schicken Ihnen Ihren Steuerbescheid. Vielleicht sprechen sie sogar Recht und verteidigen Ihre subjektiven Rechte gegen ein übergriffiges Staatshandeln. Es sind Menschen „wie du und ich“. Oder nicht?
Sie könnten die Gelegenheit zu einer Antwort nutzen, sich vielleicht doch mit „denen“ noch einmal beschäftigen, zuhören, nachdenken – und in ein Gespräch über eine Lösung für ein gesundheitliches Problem eintreten, das an der Sache orientiert ist und sich Madagaskar- und ähnlichen Phantasien enthält – auf allen Seiten.
Mit menschlichen Grüßen
Das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte