Die Rückkehr des Kremlmonsters – Mit dem Vorwurf, Russland wolle Krieg gegen die Ukraine führen, versucht die Westallianz ihre eigenen Dominanzgelüste zu verschleiern
23.01.2022 | Gastbeitrag von Mathias Bröckers Erinnern Sie sich noch an „Russiagate“? Die von allen westlichen Großmedien verbreitete Verschwörungstheorie, wonach Donald Trump mit Hilfe des Kremls ins Weiße Haus gekommen und von Wladimir Putin mit anzüglichen Pipi-Videos erpresst worden sei. Damals hieß es auch, Hillary Clinton habe die Wahl nur verloren, weil „russische Hacker” ihre E-Mails sowie Dokumente der Partei veröffentlicht hätten, die zeigten, wie sie Bernie Sanders um die Kandidatur betrogen hatte. Diese unsichtbaren „russischen Hacker“ hätten über Twitter und Facebook die Wahlen manipuliert und seien dabei, die Demokratie zu unterwandern. Erinnern Sie sich noch an die großen Enthüllungen des offiziellen „Mueller Reports“ über die „russische Einmischung“, die Tag für Tag in den Nachrichten angekündigt wurden?
Nicht vergessen sollten Sie allerdings, dass uns diese Legenden, Mythen und Verschwörungserzählungen seit Sommer 2016 als Fakten und reale Nachrichten aufgetischt wurden. Jetzt aber wandelt sich das Narrativ, wie das Cover des Economist vom 8. Januar 2022 sehr schön zeigt, erschienen vor dem „Nicht-Dialog-Dialog“ zwischen USA und Russland in Genf und Brüssel vergangene Woche.
Nicht mehr subtil, von unsichtbaren Hackern und Facebookern wird die Demokratie unterwandert, sondern direkt und vom Ultrabösen persönlich mit Knarre bedroht, der es sich tatsächlich herausnimmt, die Truppen in seinem Land aufzustellen, wo er will — zum Beispiel an die Grenze zur Ukraine, an der auch das US-Imperium und die NATO gerne ihre Raketen aufstellen würden. Wogegen die Russen Sicherheitsbedenken vorbringen — verständlicherweise, denn wenn sie im Gegenzug ein paar Hyperschall-Raketen auf Kuba stationieren und Atom-U-Boote in den „freien Meeren“ des Golfs von Mexiko cruisen ließen, wäre das ein direkter Flashback zurück in die Kubakrise …
„Diese Blechköpfe haben einen großen Vorteil. Wenn wir auf sie hören und tun, was sie wollen, ist hinterher niemand von uns mehr am Leben, um ihnen zu sagen, dass sie falsch lagen“, sagte John F. Kennedy zu seinem Berater O‘Donell, als sie im Oktober 1962 eine Sitzung mit dem Generalstab verließen, in der sich die Militärs und fast alle seiner Kabinettsmitglieder außer John McNamara und Robert Kennedy für einen sofortigen Angriff auf Kuba ausgesprochen hatten.
Um einen Krieg zu verhindern, sah JFK nur noch die Möglichkeit, eine letzte Option zu nutzen, von der weder die Militärs noch die Geheimdienste und sein Kabinett zu dieser Zeit wussten: seinen geheimen „Back Channel“ mit dem Partei- und Regierungschef auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, den Kontakt mit Nikita Chruschtschow.
Dass es einen solchen Kanal heute noch gibt und sich die säbelrasselnden „Blechköpfe“ nicht durchsetzen, kann man nur hoffen. Von US-Seite wird derzeit aber eher weiter an der Eskalationsschraube gedreht. Dort werden private ukrainische Truppen trainiert — um jene Milizen zu verstärken, die bevorzugt mit SS-Runen antreten, um die abtrünnigen Republiken „heim ins Reich“ zu holen —, und im US-Senat werden Sanktionen gegen den russichen Präsident und leitende Minister gefordert, falls Russland eine Invasion der Ukraine durchführt. Eine solche war und ist von Russland nicht geplant, wird aber von westlicher Seite seit Wochen geradezu herbeigeschrieben — mittlerweile schon mit der tollen Legende, dass Russland eine False-Flag-Operation der Ukraine zuschieben und als Anlass für einen Einmarsch nehmen könnte.
Dass Russland keinerlei Interesse an einer Einverleibung der Ukraine oder auch nur der zwei abtrünnigen Republiken hat und seit Jahren ohne Unterlass auf die Minsker Verhandlungen zwischen Kiew und der autonomen Regierung pocht, um das interne ukrainische Problem zu lösen — all das hält die hiesigen Großmedien nicht ab, die Invasionsgelüste Putins zu beschwören. Allen voran NATO-Clown Stoltenberg, dem es nach den großen Erfolgen seiner Truppe in Libyen, Syrien und Afghanistan nach neuen Budgets und Expansion gelüstet, die ohne einen fiesen Aggressor, den man „in die Schranken weisen muss“, nun mal nicht zu haben sind.
Schon warnt die FAZ: „Nach der Ukraine ist Europa dran“; klar: Mit weniger als der Weltmacht ist das Kremlmonster nicht zufrieden.
Das weiß natürlich auch die vom Trampolin ins Außenministerium gehupfte Völkerballexpertin Annalena Baerbock, die bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau den transatlantischen „Nicht-Dialog-Dialog“ wohl fortsetzen wird:
„Wir sind entschlossen, zu reagieren, wenn Russland stattdessen den Weg der Eskalation geht.“
Nun hat sich schon ihr olivgrüner Kollege Habeck im Wahlkampf mit Stahlhelm an der ukrainischen Ostfront fotografieren lassen und scheint gegen das Schlachtfeld, zu dem Europa und Deutschland in einem militärischen Konflikt mit Russland werden, nichts weiter einzuwenden haben.
Da kann man nur hoffen, dass mit der Entschlossenheit, „zu reagieren“, nicht die Bundeswehr gemeint ist , die mit US-und NATO-Truppen gerade von der Barfußarmee der Taliban verjagt wurde — und dass auch Kanzler Scholz einen diskreten Back Channel nach Moskau hat und den Ball flach halten kann.
Ganz im Sinne von großen Vorgängern wie Willy Brandt und Egon Bahr, die nach dem Mauerbau auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs für eine Pipeline nach West-Berlin sorgten, von der die Inselstadt mit Benzin und Öl beliefert wurde — über die DDR-Raffinerie in Schwedt direkt aus der Sowjetunion.
„Die Amis haben damals getobt, aber wir haben es durchgesetzt, es ging ja nicht anders“, sagte Egon Bahr dazu, als wir einige Monate vor seinem Tod 2015 über Nordstream 2 sprachen. Es geht auch heute nicht anders, der Industriestaat Deutschland und Westeuropa sind in Sachen Energie eine Insel wie damals die Mauerstadt — und Flüssiggastanker aus USA derselbe Schwachsinn wie seinerzeit Benzinlaster von Helmstedt nach Berlin. Schwachsinnig wie im Übrigen auch die gesamte „Kauft nicht beim Russen!“-Haltung, die den Rohstoff-Riesen dieses Planeten mit Sanktionen in die Knie zwingen will: China und ganz Asien werden jeden Kubikmeter russisches Erdgas und Öl auf Jahrzehnte dankbar abnehmen, während der Westen in die leere Nordstream-Röhre guckt.
Bei der Frage, warum von deutscher und europäischer Seite so wenig vernünftige Realpolitik betrieben und statt auf Handel und Wandel auf Konfrontation gesetzt wird, stößt man unweigerlich darauf, dass sich das angloamerikanische Imperium in seinem Great Game nach wie vor im „Kampf um die Weltinsel“ befindet. Und seine Raketen — wie weiland die Kanonenboote im Opiumkrieg mit China — vor der Haustür eines jeden aufstellen will, der sich nicht freiwillig unterwirft.
Russland hat den „Partnern“ nun im Dezember seine Sicherheitsbedenken schriftlich dargelegt und klargemacht, dass es mit dieser Kanonenbootpolitik vorbei ist und NATO-Raketen in der Ukraine und Georgien inakzeptabel sind. Was ist an der Forderung nach militärischer Neutralität dieser beiden Ex-Sowjetstaaten und dem versprochenen Ende der NATO-Expansion so „aggressiv“, dass man darüber nicht einmal reden will? Wenn mir das jemand erklären kann, bitte ich auch um eine Erklärung, was an der Nicht-NATO-Mitgliedschaft Österreichs und der Schweiz so gefährlich ist.
Schon in unserem Buch „Wir sind die Guten“ (2015/2019) ist dargelegt, warum eine blockfreie Neutralität als Hub zwischen Russland und der EU für die Ukraine eine weitaus bessere Lösung darstellt als der anti-russische Frontstaat, den der Westen jetzt daraus gemacht hat. Ein „Failed State“ in jeder Hinsicht …
Die akute Atomkriegsgefahr wurde vor 60 Jahren beendet, weil Kennendy die russischen Sicherheitsbedenken ernst nahm: Die in der Türkei stationierten US-Raketen wurden ebenso zurückgezogen wie die sowjetischen auf Kuba. Wenn der mit quasitaoistischem Geduldsfaden ausgestattete russische Außenminister Lawrov jetzt sagt, dass seine Geduld am Ende ist, sind das keine leeren Worte.
Schon im Syrienkrieg hatten die Russen dem Empire of Chaos bei seiner Expansion die rote Linie gezogen, indem sie mit ihrem überlegenen S-400-Abwehrsystem die Luftraumkontrolle übernahmen; in Kasachstan haben sie gerade mit der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS/CSTO) den Versuch eines Putschs im Huckepack von lokalen Protesten im Ansatz erstickt, und mit der Inbetriebnahme der neuen Hyperschall-Raketen, die nicht abgefangen werden — und nuklear bestückt sein — können, ist ein wahrer „Game Changer“ am Start.
Es braucht jetzt nicht einmal mehr einen Stützpunkt in der Karibik für eine global äußerst brenzlige Situation wie in der Kubakrise: Sie können jeden Punkt in den USA jederzeit erreichen. Und auch mit dem Stolz der US-Navy, den milliardenschweren Flugzeugträgern, mit denen man vorfahren und wehrlose Länder in Schutt und Asche legen konnte, ist es vorbei — angesichts der Mach-10-schnellen Rakete Kinzhal sind sie als „Lame Ducks“ künftig nur noch für historische Flottenparaden tauglich.
Russland verlangt Verhandlungen über die NATO-Expansion also nicht aus einer Position der Schwäche. Dass die „Blechköpfe“ im Pentagon das wissen und entsprechend verhandeln, kann die Einwohnerschaft Mitteleuropas nur wünschen und sollte alles dafür tun, nicht zum Schlachtfeld zu werden und Europa aus dem Schlepptau des sturheil unipolaren US-Imperiums zu lösen.
Der planetare Rohstoffriese Russland ist keine „Regionalmacht mit Tankstelle” (wie noch Obama spottete), sondern ein militärischer Hyperschall-Bär, der mit der Werkbank der Welt China jetzt auch noch einen ökonomischen Drachen im Rücken hat — und in diesem Verbund den gesamten eurasischen Wirtschaftsraum erschließen wird.
Wenn Europa von diesen Märkten des 21. Jahrhunderts nicht abgehängt werden will, ist ein Abrüstungs-, Beistands- und Handelsvertrag von Lissabon bis Wladiwostok überfällig. Das „Kremlmonster” Putin hat das übrigens schon 2007 vorgeschlagen. Höchste Zeit, dass sich die Muppet-Figuren in Berlin und Brüssel daran erinnern …
Mathias Bröckers, Jahrgang 1954, gehörte zur Gründergeneration der taz und war dort bis 1991 Kultur- und Wissenschaftsredakteur. Danach war er für Die Zeit und Die Woche als Kolumnist sowie als Rundfunkautor tätig und fungierte als Mitglied der Sachbuch-Jury der Süddeutschen Zeitung. Seine Bücher. „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf“ (1993), „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ (2001) und „Wir sind immer die Guten — Ansichten eines Putinverstehers“ (2016) (mit Paul Schreyer) waren internationale Bestseller. Zuletzt schrieb er „Klimalügner — Vom Ende des Kaputtalismus und der Zuvielisation“ (2020) und „Mythos 9/11“ (2021). Er bloggt auf broeckers.com.
Dieser Beitrag ist erschienen in Rubikon – Magazin für die kritische Masse und von dort mit einer cc-Lizenz übernommen.