Der Zankapfel – Russland will sich die Ukraine nicht einverleiben — es will nur verhindern, dass die NATO dies tut
02.02.2022 | Gastbeitrag von Kai Ehlers Der Lärm um die Ukraine wird immer schriller. Und dennoch: Den Krieg wird es so, wie ihn gerade viele Seiten mit immer neuen Spekulationen beschwören, nicht geben. Weder droht Russland mit Krieg, noch ist Putin an einem Einmarsch in die Ukraine interessiert. Eine annektierte Ukraine würde Russland ökonomisch und politisch in einem nicht mehr verkraftbaren Maße belasten. Russland will eigentlich nur eines: verhindern, dass die Ukraine voll und ganz zum NATO-Land wird. Das Verhalten des Westens deutet vor dem Hintergrund der momentanen politischen Gesamtlage vor allem auf eines hin: Die eigene Bevölkerung soll durch eine Aufeinanderfolge von Schocks und Krisen in Atem gehalten werden, um sie besser kontrollieren zu können.
Auch Joe Biden tönt nur, um seine Aussagen dann gleich wieder zu relativieren. Selbst Annalena Baerbock, die sich so gern militant gibt, baut sich zwar drohend gegen Russland auf, doch der wirkliche Angriffswillen fehlt hinter ihr. Es geht erkennbar nicht um offenen Krieg mit Russland, sondern um dessen Einschnürung, wenn möglich Totrüstung — wobei die gesamte westliche Propagandatruppe zugleich deutlich erkennen lässt, dass nicht einer von ihnen bereit ist, für die Ukraine ins Feuer zu gehen und seinen kriegshetzerischen Worten militärische Taten folgen zu lassen.
Halten wir einfach fest: Russland als Herzland Eurasiens, verbunden zudem mit China und dies umso enger, je mehr der Chor aus USA, NATO, EU den Ton ihres Bedrohungsmarathons aufdreht, wäre in einem Krieg mit konventionellen Waffen nicht zu bezwingen. Schon in der Vergangenheit war es durch Eroberungskriege nicht einzunehmen, nicht zu besetzen oder zu unterwerfen. Man erinnere sich an die gescheiterten Versuche Napoleons im 19. Jahrhundert, der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg, Hitlers im Zweiten und der nicht gelungenen weichen Übernahme durch die USA nach dem Ende der Sowjetunion. Heute hätte der Einsatz von Atomwaffen zudem auch für den, der sie zuerst einsetzt, tödliche Folgen.
Es wiederholt sich auch nicht einfach der „Kalte Krieg“ zwischen zwei Blöcken. Was wir gegenwärtig erleben, sind vielmehr die hysterischen Versuche des „Westens“, seine bisherige globale Dominanz unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges und schon gar eines Atomkrieges aufrechtzuerhalten, um eine Verschiebung der unübersehbar heranwachsenden Neugliederung der globalen Kräftekonstellationen zu verhindern.
Was wir gegenwärtig erleben, ist genau betrachtet ein Geschrei, das umso lauter ist, je weniger die westlichen Akteure in der Lage sind, das Angedrohte auch tatsächlich umzusetzen.
Nehmen wir als Beispiel nur das Gezänk um „Nordstream 2“: Will Annalena Baerbock der deutschen Bevölkerung angesichts der deutschen Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland wirklich zumuten, den „Preis“ dafür zu zahlen, dass Russland kein Gas mehr liefert? Das würde sie politisch vermutlich nicht überleben.
Oder nehmen wir die Forderung, Russland aus dem internationalen Zahlungsverkehr SWIFT auszuschließen: Wie will der „Westen“ den daraus resultierenden Verlust seiner finanziellen Dominanz ohne Eskalation der jetzt schon grassierenden Finanzkrise überstehen? Welche „Preise“ möchte Baerbock der deutschen und der mit ihr verbundenen europäischen Bevölkerung darüber hinaus noch zumuten, ohne dass es zu Tumulten in der an Wohlstand, zumindest an erschwingliche Grundversorgung gewöhnten Bevölkerung kommt?
Ganz zu schweigen davon schließlich, dass ein sowohl ein konventioneller als auch atomarer Einsatz von Waffen gegen Russland zu einer Verwüstung Europas, konkret Deutschlands führen würde. Selbst ein US-Präsident kann einen solchen Waffeneinsatz nicht wollen, denn in einem mit Hyperschallraketen ausgetragenen Waffengang würden auch die USA nicht unversehrt bleiben. Das wissen alle Akteure. So what? Wieso der ganze Lärm?
Man wird erleben, dass die lautesten Schreihälse sich mit einem Winseln zum „Dialog“ setzen werden, weil es den einfachen Ausweg aus der heutigen Transformationskrise, den großen Eroberungskrieg, der den Gegner vernichten könnte, nicht mehr gibt, ohne die eigene Vernichtung damit einzuleiten.
Statt dessen nehmen lokale Brände zu und eingefrorene Konflikte in den diversen Grenzbereichen und sich überschneidenden Einflusszonen der Blöcke tauen auf. Damit kann man sich gegenseitig in Schach halten. Darin ist der Westen Russland gegenüber im Vorteil, weil Russland aus der Erbmasse der Sowjetunion von vielen solcher Konfliktzonen umgeben ist. Ukraine ist einer dieser Konflikte, der vom Westen hochgespielt wird, für dessen Löschung aber keine der beteiligten Mächte bereit ist, eine militärische Beistandsgarantie abzugeben.
Klar gesagt: Es geht nicht um die Ukraine, schon gar nicht um die Verbesserung der Lebensbedingungen der ukrainischen Bevölkerung. Eher sieht es so aus, als ob der seit dem Maidan-Umsturz schwelende lokale Konflikt als Stellvertreterkrieg weiter befeuert, bestenfalls durch neue „Minsker“-Verhandlungen eingefroren wird. Sehr wohl aber geht es um den Versuch, Russland, wie seinerzeit die Sowjetunion, in einen Rüstungswettlauf zu zwingen, um es auf diese Weise ökonomisch niederzuringen.
Dies alles lässt Erinnerungen hochkommen, die man schon lange überwunden geglaubt hat: George Orwell beschrieb in seinem Buch „1984“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Einsatz der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki eine Zukunft, die von drei großen Machtblöcken — Eurasien, Ozeanien und Ostasien — gebildet werde. An ihren Grenzen, wo sich die Einflusszonen überlappen, lassen sie beständig Kriege führen, die aber nichts Wesentliches an der Grundkonstellation zwischen ihnen ändern.
Die Kriege führen Spezialtruppen, während die Bevölkerungen innerhalb der großen Machtblöcke unter der Parole „Krieg ist Frieden“ durch volle technische Kontrolle, einschließlich mentaler und gesundheitlicher Überwachung, in einem dauerhaften Ausnahmezustand ruhig gehalten wird. Wer diese Art des Friedens in Frage stellt, wird ausgegliedert oder ganz vernichtet.
Einige Sätze aus Orwells Vision, genauer aus dem Kapitel III „Krieg ist Frieden“, mögen diese Art des Friedens verdeutlichen, die uns heute nachdenklich stimmen kann: „In der einen oder anderen Kombination“ schreibt er, „befinden sich diese drei Superstaaten ständig im Krieg, und das seit fünfundzwanzig Jahren. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist eine Kriegführung mit begrenzten Zielen zwischen Opponenten, die nicht in der Lage sind, einander zu vernichten, die keinen materiellen Kriegsgrund haben und nicht durch einen echten ideologischen Unterschied gespalten sind. (…)
Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. (…) Denn wenn alle Menschen gleichermaßen in Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise aufgrund ihrer Armut verdummt ist, sich bilden und damit lernen, selbstständig zu denken; und wenn dies einmal geschehen wäre, würden sie früher oder später erkennen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und sie würden sie hinwegfegen. Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Grundlage von Armut und Unwissenheit möglich. Eine Rückführung in die agrarische Vergangenheit, wie sie sich einige Denker zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erträumt hatten, war keine praktikable Lösung. (…)
Es war auch keine befriedigende Lösung, die Massen durch die Drosselung der Warenproduktion in Armut zu halten. Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. Waren mussten produziert, durften aber nicht verteilt werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dies zu erreichen, die kontinuierliche Kriegführung. Der wesentliche Akt des Krieges ist die Zerstörung, nicht unbedingt von Menschenleben, sondern von den Produkten menschlicher Arbeit. (…)
Der Krieg leistet nicht nur, wie man sehen wird, die notwendige Zerstörung, sondern erreicht dies in einer psychologisch akzeptablen Weise. (…) Es spielt keine Rolle, ob der Krieg tatsächlich stattfindet, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, spielt es auch keine Rolle, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist lediglich erforderlich, dass ein Kriegszustand existiert. (…) Der Krieg wird heute von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges besteht nicht darin, Gebietseroberungen zu erzielen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zuhalten. (…) ein wirklich dauerhafter Frieden wäre das Gleiche wie ein permanenter Krieg. Dies ist (…) die innere Bedeutung der Parteiparole: KRIEG IST FRIEDEN.“
Selbstverständlich ist dieses Bild nicht eins-zu-eins auf heute zu übertragen. Noch bestehen kulturelle Unterschiede zwischen Euramerika, Russland und China. Mit dem weltweiten Einzug des digitalen Kapitalismus schrumpfen sie tendenziell zu folkloristischen Besonderheiten. Noch sind die Ressourcen, die für die industrielle Entwicklung gebraucht werden, nicht gleichmäßig verteilt. Um die Gasversorgung wird noch gestritten. Die Entwicklung neuer Energiequellen, einschließlich des weiteren Ausbaus von Atomkraftwerken zeichnet sich jedoch ab. Noch ist die technische Kontrolle der Bevölkerung nicht perfekt und nicht global vereinheitlicht. Noch ist die Einordnung in ein Regime der Volksgesundheit nicht zu einem täglichen Ritual vor dem „Auge“ des „Großen Bruders“ geworden, wie Orwell es schildert.
Aber Grundelemente einer Entwicklung, wie Orwell sie beschreibt, tauchen aus dem Nebel der aktuellen Kriegspropaganda auf, zumindest wie sie von westlicher Seite betrieben wird, nämlich Versuche, die Bevölkerung in die Akzeptanz einer beständigen Ausnahmesituation zu treiben, in der Krieg als Garant des Friedens erscheint.
Was haben wir dem entgegenzusetzen? Das ist die Frage. Die Antwort ist, — darf man das sagen? — im Grunde ganz einfach: genau das zu tun, was von den kriegstreiberischen Kräften nicht gewollt wird: Selber denken, selber Wege der Kooperation suchen, selber Brücken bauen, im Kleinen wie im Großen. Gibt es einen anderen Weg? Wohl kaum
Kai Ehlers ist selbstständiger Publizist, Forscher und Buchautor. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf den Entwicklungen in den Staaten des früheren sowjetischen Einflussbereichs und deren lokale wie globale Folgen. In Deutschland engagiert er sich in der Debatte um gesellschaftliche Alternativen. Weitere Informationen unter www.kai-ehlers.de.
Dieser Beitrag ist erschienen in Rubikon – Magazin für die kritische Masse mit cc-Lizenz.