Naomi Beckwith als Künstlerische Leiterin der documenta 16 vorgestellt

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Ukrainische Märchen und Sagen bis 13. Mai im Brüder Grimm-Zentrum

18.4.2022 (pm/red) Dass die Brüder Grimm-Gesellschaft in ihrer Orientierung für Weltoffenheit zugleich die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung und kulturelle Vielfalt der Völker als grundlegend betrachtet, wird in der aktuellen Ausstellung „Ukrainische Märchen und Sagen“ im Brüder Grimm-Zentrum anschaulich gemacht. Zu den Sammlungen gehören nicht allein Ausgaben der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ in beinahe 200 Sprachen und Kulturdialekten der Welt. In den zahlreichen Zeugnissen und Dokumenten der Sprach- und Literaturgeschichte vieler Länder, sei selbstverständlich auch ein Fundus zur Ukraine enthalten, erläuterte Dr. Berhard Lauer beim Rundgang durch die umfassende Ausstellung, die aus Anlaß des Krieges in der Ukraine vom 19. April bis 13. Mai in den Räumen am Brüder-Grimm-Platz präsentiert wird.

Märchen- und Sagentradition im Kontekxt der ukrainische Sprache und Literatur

„Mit der aktuellen Ausstellung über >Ukrainische Märchen und Sagen< möchten wir dem chauvinistischen und imperialistischen Narrativ Putins, der das ukrainische Volk physisch vernichten will und die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Kulturtradition bestreitet, etwas entgegenstellen – ganz nach dem Satz von Jacob Grimm: >Nur die Wahrheit währt<“ erläuterte der Geschäftsführer der Brüder Grimm-Gesellschaft den Impetus für die Präsentation, die in den vergangenen Wochen mit Nachdruck vorbereitet worden ist. Dr. Lauer hat die Ukraine in 2016 zuletzt selbst bereist und hat mit seinem Studium der slawischen Sprachen von Haus aus Nähe und weitgehende Kenntnisse des byzantinischen Kulturkreises.

Über reiche ukrainische Märchen- und Sagentradition hinaus blicken

Die Ausstellung will dabei nicht nur die reiche ukrainische Märchen- und Sagentradition beleuchten, sondern auch die ukrainische Sprache und die ukrainische Literatur in ihrer Geschichte von der sog. „Kiewer Rus“ bis zur Gegenwart exemplarisch beleuchten.
So wie Deutsche und Franzosen auf ein Staatsgebilde unter dem Franken Karl dem Großen als Gründungsmythos zurückblicken, so sehen sich die drei großen ostslawischen Völker der Russen, Ukrainer und Weißrussen in der Tradition des Kiewer Reiches (Rus‘).

Nicht alleine ukrainische Märchen und Sagen, auch die kulturgeschichtliche Entwicklung des Landes, ausgehend vom „Kiewer Rus“ im 10. Jahrhundert, thematisiert die Ausstellung im Brüder-Grimm-Zentrum. Foto Brüder-Grimm-Zentrum

„Kiewer Rus“ – Großreich im 10. Jahrhundert mit Russen, Ukrainer und Weißrussen

Sie beziehen sich dabei vor allem auf den Fürsten, der im Jahr 988 das orthodoxe Christentum
annahm. Im Russischen heißt er Vladimir, im Ukrainischen Volodymyr und im Weißrussischen Uladzimir. Im Jahre 988 hat der genannte Kiewer Großfürst das orthodoxe Christentum angenommen und die Slawen im Osten damit ganz in den byzantinischen Kulturkreis geführt. 1988 hat man in der Sowjetunion, aber auch in Westeuropa „1000 Jahre Rußland“ gefeiert und dabei mehr oder weniger ignoriert, daß das Kiewer Großreich des 10. Jahrhunderts, die sog. „Kiewer Rus‘“ für alle drei ostslawische Nationen – also auch für die Ukrainer und Weißrussen – den historischen Gründungsmythos bildet. In der Ausstellung wird diese Entwicklung anschaulich.

Sprachgeschichte als Abbild der Entwicklung der ostslawischen Fürstentümer

In der Wissenschaft habe sich hier der eigentlich unangemessene Begriff „altrussische Sprache“, „altrussische Literatur“ oder „altrussische Kunst“ eingebürgert, erläuterte Lauer. Man müsse hier ebenso den Begriff „altukrainisch“ oder „altweißrussisch“ verwenden um der historischen Entwicklung gerecht zu werden. Die Sprachgeschichte der Russen, Ukrainer und Weißrussen gehe auf das sog. „Altkirchenslawische“ oder „Altbulgarische“ zurück. Die aus Thessaloniki im Oströmischen Reich stammenden „Slawenapostel“ Kyrill und Method übersetzten im 9. Jahrhundert die Evangelien sowie liturgische Texte für die Missionierung der Slawen. Ihre sprachschöpferische Leistung bildete in der Folge die Grundlage für die kulturelle Entwicklung und Blüte der sog. „Kiewer Rus‘“ und aller nachfolgenden ostslawischen Fürstentümer.

Moskowitisches und zaristisches Rußland wurde dominant

Der Begriff „altrussische“ Sprache bzw. „altrussische“ Literatur beziehe sich zu einseitig auf das moskowitische und zaristische Rußland und sollte besser und sachgerechter mit dem Begriff „Altostslawisch“ wiedergegeben werden.
Die moderne ukrainische Literatur ist bekannter Maßen spät entstanden, aber auch die moderne russische Literatur sei nicht viel älter, erläuterte Lauer. Bis in die Neuzeit war in allen ostslawischen Gebieten das sog. „Kirchenslawische“ mit jeweiligen lokalen und regionalen Besonderheiten die „lingua comunis“ der ostslawischen Völker; man kann damit die Rolle des Lateinischen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vergleichen.

Die großen russischen Schriftsteller von Alexander Puschkin über Iwan Turgenew bis zu Leo Tolstoi entstammten gut situierten russischen Adelsfamilien und konnten nicht nur eine grundlegende europäische Bildung genießen, sondern auch Westeuropa auf ihren Reisen und bei ihren Aufenthalten in den großen europäischen Kurorten, wie Baden-Baden oder Karlsbad, genießen.

Taras Schewtschenko – vom Leibeigenen zum Spiritus Rector der ukrainischen Sprache, Literatur und Malerei  

Der Begründer der modernen ukrainischen Sprache und Literatur, Taras Schewtschenko (1814–1861), entstammte dagegen aus einer Familie von armen Leibeigenen und habe seine Bildung sich autodidaktisch erwerben müssen. Er war nicht nur als Dichter reich begabt, sondern auch als Maler und Zeichner. Aber als ihn sein Besitzer, der baltendeutsche Gutsherr Pawel Engelhardt, beim Zeichnen erwischte, ließ er ihn erst einmal auspeitschen. Später habe sich sein Herr die Begabung seines leibeigenen Künstlers zu nutzte gemacht, sich mit ihm in Wilna und St. Petersburg in der adligen Gesellschaft gebrüstet, ihn aber erst 1838 für 2500 Rubel – eine unglaublich hohe Summe in der damaligen Zeit – aus der Leibeigenschaft entlassen.

Zehn Jahre Verbannung mit Verbot dichterischer oder künstlerischer Betätigung

Wegen seiner freiheitsliebenden Gedichte und seinem Engagement für die ukrainischen Bauern schickte der russische Zar Nikolaus den ukrainischen Dichter nach wenigen Jahren der Freiheit 1847 für zehn Jahre in die Verbannung mit der strengen Auflage, ihm jede dichterische oder künstlerische Arbeit zu versagen. Von dort konnte er, gesundheitlich angeschlagen, erst wenige Jahre vor seinem Tode wieder zurückkehren.

Das Füchslein und der Krebs, im Deutschen der Hase und der Igel, erzählt von Ivan Franko und illustriert von Valentin Hordicjuk. Sternbald-Foto Hartwig Bambey

Zur Entwicklung der ukrainischen Sprache und Literatur

Nach dem polnischen Aufstand von 1863 wurde das Ukrainische jedoch mit dem Emser Erlaß von Zar Alexander II. im gesamten Russischen Reich verboten. Die ukrainische Sprache und Literatur konnte sich vor allem in Galizien, bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörend, entwickeln. Zu ihren wichtigsten Vertretern gehörten in der Folge Ivan Franko (1856–1916), Mychailo Kocjubynskyj (1864–1913) und Lesja Ukraïnka (1871–1913) und viele andere. Im 20. Jahrhundert mußte sich die ukrainische Literatur in die sowjetische Kultur einfügen, begleitet jedoch von einer bedeutenden Exildichtung.

Dokumente zur altslawischen und ukrainischen Literaturgeschichte

Die Ausstellung zeigt zahlreiche Dokumente zur altslawischen und ukrainischen Literaturgeschichte, darunter die Faksimiles der „Kiewer Blätter“ (Original in der Nationalbibliothek zu Kiew) und des „Codex Assemanianus“ (Original in der Vatikanischen Bibliothek zu Rom) oder den „Kiewer Psalter“ (Original in der Russischen Nationalbibliothek zu St. Petersberg).

An historischen Landkarten des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Territorialgeschichte der Ukraine situalisiert. Bei einer Reise in die Ukraine in 2016 konnte Bernhard Lauer wichtige Kulturdenkmale des Landes fotografieren. Damit kann deren Beitrag zur Kunstgeschichte auch in Fotografien gezeigt werden.

Illustration zum jüdischen Märchen „Chavele“ von Svitlana Kim in einer Buchausgabe aus 1992, erzählt in jiddischer und ukrainischer Sprache von Hanna Snaiderman. Sternbald-Foto Hartwig Bambey

Illustrierte Ausgaben ukrainischer Märchen und Sagen

Im Mittelpunkt stehen illustrierte Ausgaben ukrainischer Märchen und Sagen, gestaltet von zahlreichen ukrainischen und deutschen Künstlern. Dazu gehören auch ukrainische Ausgaben der Grimmschen Märchen, die auch das Interesse viele ukrainischer Künstler gefunden haben und von ihnen illustriert worden sind.

Українські казки та легенди
Ukrainische Märchen und Sagen
Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.
19. April – 13. Mai 2022
werktags von 10 bis 13 Uhr
Brüder Grimm-Platz 4, Kassel
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